Mit seinem psychologischen Drama "Die rote Wüste" erzählt der italienische Kult-Regisseur Michelangelo Antonioni die Geschichte einer von Neurosen und Angstzuständen geplagten Frau, die sich verzweifelt ins gewöhnliche Leben zurückzukämpfen versucht. Nicht so radikal experimentell erzählt wie etwa seine Hauptwerke "Zabriskie Point" oder "Blow Up", und doch weitab vom Mainstream-Kino der 60er-Jahre, besticht sein Werk durch eine strenge formale Umsetzung, intensive Darsteller und eine faszinierende Erzählweise.
Der Inszenierung merkt man ab der ersten Szene an, dass man es mit einem Antonioni-Film zu tun hat: Die Bilder wirken streng komponiert und nie zufällig, suchen dabei immer wieder ungewöhnliche Perspektiven inmitten des alltäglichen Arbeitsbetriebs der technisierten Industrienation des 20. Jahrhunderts. Da schießen Flammen im stakkatohaften Rhythmus aus einem Schornstein, arbeiten riesige Maschinen, die wie Urzeit-Monster wirken, unablässig vor sich hin und entweichen gewaltige Dampfwolken unter lautem Getöse. Die hauptsächlich im Hafen- und Industrieviertel spielende Handlung wird immer wieder zugunsten gewaltiger, überraschender, ja mitunter surrealer Bilder eingebremst, die wie aus dem Nichts hervorspringen. Da scheinen gigantische Containerschiffe durch den Wald zu schweben oder tauchen geisterhaft aus tiefem Nebel auf. Und die Hütte eines Freundes wird zur Schutzbastion vor dem undurchschaubaren Nichts der endlosen Hafenanlagen.
Aber nicht nur diese irritierend-faszinierenden Bildkompositionen begeistern und ziehen tief in ihren Bann. Antonioni arbeitet mehr als viele andere Regisseure mit einer eigenständigen Tonspur. So wird speziell die Anfangssequenz von den Geräuschen der weiten Industrieanlagen bestimmt: Es zischt, rattert, rumort, knallt, donnert. In den ersten fünf Filmminuten entsteht so ein ganz eigener, beinahe musikalischer Rhythmus, bestehend aus den Tönen technischer Geräte und Maschinen. Und wenn die psychisch labile Giuliana allein und ängstlich durch ihre Wohnung tigert, verdeutlicht die surreal angehauchte Tonkulisse ihren verwirrten Geisteszustand.
Untermalt wird diese formale Verrückung alltäglich scheinender Ereignisse durch das etwas theatralische, aber mit der Zeit immer fesselndere Spiel der Hauptdarsteller. Wie nebenbei entspinnt sich eine verbotene Liebesbeziehung zum guten Freund ihres Mannes, der mehr Verständnis für sie aufbringt als alle anderen in ihrem Umfeld. Doch wo sich viele Filme auf diese Affäre konzentriert hätten, bleibt "Die rote Wüste" seinem Hauptthema, der psychischen Verletzbarkeit des Individuums inmitten der durch Maschinen und Stahl dominierten modernen Gesellschaft, treu ergeben. Antonioni behauptet nicht, diese Gesellschaft an sich müsse krank machen; aber er zeigt, dass das Ringen der Menschen um Gesundheit und Glück in dieser Umgebung sinnlos sein muss. Das verdeutlichen neben den Industrieanlagen selbst auch die endlosen, morastigen, nebelverhangenen Schlammwege, auf denen die Figuren immer wieder unterwegs sind - Schauplätze bereits verkaufter Grundstücke für kommende Fabriken.
"Die rote Wüste" ist das intensive Porträt einer taumelnden Frau, zugleich der geglückte Versuch, konventionelle Sehgewohnheiten aufzubrechen und dem durchrhythmisierten Betrieb der modernen Industrienation neue Perspektiven zu verleihen. Mit immer wieder erstaunlichen, mitunter atemberaubenden Bildern versetzt er den Zuschauer ganz tief in diese Welt, in der dicht unter der funktionierenden Oberfläche Chaos und Einsamkeit zu lauern scheinen. Ein fesselnder, visuell berauschender und unaufdringlich tiefgründiger Film, voller komplexer Symbolik. Für Kunstfreunde ein Muss, für alle anderen durchaus zu empfehlen.