Diese Dokumentation von Werner Doyé aus dem Jahre 1981 wirft einen Blick auf eine ebenso skurrile wie interessante Situation, wie sie nur in einer von zwei Machtblöcken geteilten Metropole, wie Berlin es war, hat entstehen können: den Niedergang des Verkehrssystems S-Bahn, einer in sonstigen Großstädten alltäglichen Erscheinung.
Dieser Niedergang - so erfährt es der in heutiger Zeit mit dieser Thematik wahrscheinlich weniger vertraute Zuschauer - ist ein Resultat eines langjährigen Boykotts der S-Bahn seitens der Westberliner Regierung, was zur Stillegung sämtlicher Linien mit Ausnahme einer Nord-Süd-Verbindung sowie einer Linie zwischen dem Südwesten und dem Westberliner Zentrum führte.
Die zum genannten Dilemma hinführenden Hintergründe sind mannigfaltig, rühren jedoch stets aus der Teilung der Stadt und der feindlichen Haltung beider Machtblöcke zueinander. Verwaltung, Arbeitsgerichte, sonstige Institutionen der S-Bahn - kurz: der gesamte Arbeitgeber S-Bahn - sowie der Reichsbahn insgesamt befanden sich dort, wo sie bereits vor der Teilung Europas und Berlins waren, nämlich im Osten der Stadt. Nach der Teilung verblieb die Reichsbahndirektion im Ostteil - dies war das Ergebnis komplexer Verhandlungen, welche auch die Regelung des Transitverkehrs für Westberliner und Westdeutsche durch die DDR regelten. Die Verfügung der Reichsbahndirektion im Osten über das Westberliner Straßenbahnnetz ist somit als ein Entgegenkommen des Westens für wichtige Gegenleistungen der DDR an dieselbe zu verstehen.
In der DDR entschied man über Einstellungen und Kündigungen im Westen; Fahrkartengelder der Westberliner Fahrgäste wurden ausschließlich dem Osten zugeführt, und in Ostberlin bezahlte man die Beschäftigten aus dem Westen teilweise mit Westgeld, teils mit der wenig beliebten, weil stark wertgeminderten Ostmark. Westberliner Regierungen, gleich welcher Couleur, riefen bereits in den 1960er Jahren zum Boykott der S-Bahn auf, um die Zuführung von Devisen an die DDR zu unterbinden. Im Westen Beschäftigte waren über die Vergütung mittels Ostmark derart unzufrieden, daß sie im Herbst 1980 einen Streik von bislang unbekanntem Ausmaß begannen. Alle diese Umstände waren Sprengstoff für das Fortbestehen der S-Bahn im Westen; die DDR reagierte im Westteil mit Stillegungen von Linien, Schließungen von Bahnhöfen, Entlassungen von Mitarbeitern. Der Zeitpunkt für ein Umdenken schien überfällig zu sein, wenn man diesem Verkehrssystem neue Impulse und somit neue Lebensfähigkeit geben wollte...
"Zwischen den Gleisen wächst das Gras" ist nicht nur ein Film, der die oben genannten komplizierten Zusammenhänge erklärt, sondern auch liebevoll-melancholische Blicke auf unterschiedliche Typen der Bahnhofsarchitektur sowie auf Schienen, Züge und Bahnhofsgebäude und -kneipen wirft, welche 1981 dem drohenden Zerfall ausgeliefert waren. Die Dokumentation ist somit für historisch-politisch Interessierte ebenso sehenswert wie für Eisenbahn- und S-Bahn-Liebhaber. Im damals aktuellen Kontext richtet sie sich an alle Beteiligten und Betroffenen, indem sie die Möglichkeit des Appells zum Umdenken wahrnimmt.
Für den heutigen Zuseher bildet sie zudem ein wertvolles Dokument aus längst vergangenen Zeiten des Fernsehens, als Dokumentationen (aber auch Fernsehspiele u.a.) noch ausführlicher, tiefgründiger, weniger temporeich und somit weniger hektisch waren und ohne an Hollywood erinnernde Effekte im akustisch-visuellen Bereich problemlos auskamen!