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Am Klondike River in Yukon kam es [Achtung: Spoiler!] in den 1890er-Jahren zum sogenannten Goldrausch, der – etwa titelgebend bei Charles Chaplin – fortan zum Fundus der populären Kultur gehören sollte: Von Jack London bis hin zu den Uncle-Scrooge-Geschichten eines Carl Barks oder Don Rosa reicht der literarische Nachhall. Und auch Filme wie "The Trail of '98" (1928), "The Call of the Wild" (1935) oder "The Far Country" (1954) haben an der Grenze zwischen Western und Abenteuerfilm das Motiv des Goldsuchers am Klondike ins nahezu Mythische überhöht.
Überraschenderweise stammt einer der kraftvollsten Filme aus dieser Sparte aus der Sowjetunion: Lev Kuleshov, Entdecker des gleichnamigen Effekts, Filmtheoretiker und Filmemacher, legte nach der Jack-London-Story "The Unexpected" (1906) ein hochdramatisches Kammerspiel vor, das wenig für das Abenteuerfilm-Potential der Goldsuche übrig hat (gleichwohl Kuleshov für dieses Genre keinesfalls unempfänglich war), sondern eher das Rauschhafte des Goldrausches, das Fiebrige des Goldfiebers in den Blick nimmt. (Bedenkt man Londons Mitgliedschaft in der Socialist Party of America, mag die Überraschung über solch einen Sowjet-Film zum Klondike-Goldrausch dann doch wieder etwas geringer ausfallen.)

Fünf Menschen und ein Hund hocken in einer Hütte am Klondike und umliegenden Zeltlagern zusammen: der Ire Michael Dennen, der Vorstandsvorsitzende Hans Nelson, ein Schwede, seine englische Gattin Edith Nelson, sowie die Aktionäre Dutchy und Harkey. Dennen ist als erste Figur zu sehen und erscheint zunächst auch als aktivste Figur, wenn er mit dem hündischen Gefährten am Ufer werkelt, Wasser kocht und das Mittagessen für alle zubereitet. Edith wird dagegen vor allem als fromm und bibelfest eingeführt: mit der Bibel in der Hand, andächtig in den Himmel schauend – bevor sie dann voller Anmut ihre Haare kämmt. Die Aktionäre tun sich dagegen vor allem als gute Esser beim gemeinsamen Mahl hervor, nach welchem Dennen schnell wieder zur Schürfstelle zurückkehrt, als man sich entschlossen hat, die Zelte an dieser Stelle abzubrechen. Und gerade jetzt, kurz vor dem Abbruch stößt er auf Gold und löst einen allgemeinen Freudentaumel aus.
"Little Home, Great Happiness", verkündet ein Schild vor der gemeinsamen Hütte, in der sich Dennen um die Wäsche kümmert, derweil es mit der Goldgewinnung, um die sich Edith und die anderen Männer kümmern, vorangeht. Edith ist dabei vor allem als Spiegelbild im Schürfbecken zu sehen: als Bild, das auf der bewegten Wasseroberfläche ins Wanken gerät. Bei Dennen regt sich indes Unmut, hat man doch ihn als Entdecker des Goldes mit der Wäscherei beauftragt. In einer Pfanne auf offenem Feuer kocht es in Großaufnahme, die Nelsons und die Aktionäre freuen sich auf die Mahlzeit und einen Wein, über den abwesenden Dennen spotten Dutchy und Harkey. Da tritt Dennen ein, mit fanatischem Blick und einem Gewehr. Zwei Schüsse fallen und nachdem gerade einmal das erste Viertel des Films um ist, hat Dennen Dutchy und Harkey tödlich versehrt. Der zweite Leichnam ist vor seiner Schüssel mit Bohnen niedergesackt, mit dem Kopf an der Tischkante auf dem Boden kniend, den Teller dabei eingeklemmt, derweil die Bohnenpampe wie Hirnmasse von seiner Stirn tropft. Ein krudes, ruppiges Bild der Gewalt. Und vor und nach diesem Anblick kämpft erst Edith mit Dennen, dann auch Hans. Rasante Montage schräg und schief eingefangener Bilder, derweil siedendes Wasser einen Kessel auf der Feuerstelle zum Pfeifen bringt. Zur Überraschung aller entpuppt sich einer der vermeintlich Toten als durchaus lebendig – doch die Hoffnung währt nur kurz, denn wenig später erliegt auch Harkey seinen Verletzungen.
Nun beginnt die eigentliche Kernhandlung des Films: Denn Edith und Hans leben nun in der Abgeschiedenheit mit einem Mörder zusammen, den sie zwar überwältigt und gefesselt haben, der aber keine Zweifel daran lässt, dass er auch ihnen den Tod wünscht. Hans' frühes Vorhaben, Dennen zu erschlagen, wird von Edith noch vereitelt – immerhin sei Dennen ein Weißer. Während um die Hütte herum Wind und Regen peitschen, während mal Schnee und Eis und mal Wasser (auf dem teils zugefrorenen Yukon) für Unwirtlichkeiten sorgen, spitzen sich die Schwierigkeiten zwischen Dennen und den Nelsons zu. Letztere beseitigen, nachdem sie schon die Toten in mühsamer Arbeit bestattet haben, die blutigen Spuren des Verbrechens, welches damit freilich nicht aus der Welt geschafft ist. Gewissenhaft wacht man über den scheinbar wahnsinnig Gewordenen und kämpft gegen steigendes Wasser, das bald auch in die Hütte dringt. Erneut muss Edith verhindern, dass Hans den Mörder entleibt, als es diesem gelungen ist, ein Feuer zu legen – diesmal fügt sie die Einschränkung "Nicht ohne Gesetz" hinzu. An Ediths Geburtstag bahnt sich ein etwas zivilisierteres Verhalten Dennens an, der auf ihren Wunsch dann auch von Hans rasiert wird. Kuleshov macht daraus eine bedrohliche Suspense-Szene, die Dennen freilich überleben wird: die scharfe Klinge wird sich nicht durch seine Kehle ziehen. Nachdem man zu dritt feierlich gespeist hat, gibt Dennen erstmals seine Gründe an: furchtbar einfach schien es ihm damals zu sein, als einziger mit dem Gold heimzukehren, derweil Kuleshov auf solch eine imaginierte Heimkehr überblendet – zur alten Mutter, die den Zwischentiteln gemäß immer zu Dennen gesagt habe, er werde einmal am Galgen enden.
Diese nachträgliche Charakterisierung des offenbar schon früher auffällig gewesenen Mörders lässt zwar die Spötteleien seiner Gefährten nicht vergessen, die wohl zu seiner Motivation beigetragen haben dürften, entschärft doch aber ein wenig den Eindruck, der Film würde der einzigen Frau die Schuld zuweisen, die als Vorstandsgattin ihren Mann steht, derweil gerade Dennen als Entdecker der Goldquelle mit traditioneller Hausfrauenarbeit beschäftigt wird. (Denn zumindest in der deutschen/englischen Übersetzung der Zwischentitel der Edition-Filmmuseum-DVD klagt Dennen explizit darüber, dass man ihn zur "Wäscherin" gemacht habe.) Ein solcher Verdacht mag aufkeimen, da Ediths frommes Beharren auf die Einhaltung des Gesetzes in Verbindung mit der wohl von allen Figuren geteilten (aber nur von ihr ausgesprochenen) rassistischen Unterteilung in Weiße und Nicht-Weiße die Figur letztlich nicht im besten Licht erstrahlen lässt. Doch Aleksandra Khokhlova, Kuleshovs Partnerin, vereint so kraftvoll wie glaubwürdig Frömmelei, Anmut, Freude, Erregung, Bestürzung und Schrecken, dass sie alle möglicherweise problematischen Anlagen der Figur mit einer Ambiguität ummantelt, die aus ihrer Edith Nelson die faszinierendste und komplexeste Figur des Films machen, welche sich vorschnellen Urteilen letztlich entzieht.
Parallel zu Dennens Beruhigung beruhigt sich auch das Wetter. Und Edith und Hans fassen den Entschluss, ein Urteil zu sprechen. Edith besteht auf ein Verfahren nach englischem Recht, das dann auch unter dem Bild von Queen Victoria abgehalten wird – wenn auch nicht an einem Sonntag, wie Hans es zunächst unbedacht zu tun gedenkt. Nun läuft alles zivilisiert und geordnet ab: Anklage, Verfahren, Urteilsfindung. Ediths Blick erscheint nun – im gespenstischen Kerzenschein – fanatischer als einstmals derjenige Dennens, den man bald zum Tod durch Erhängen verurteilt hat. An einem nahegelegenen Baum wird er schließlich mit einiger Mühe aufgeknüpft. Und wie schon bei Jack London vermengen sich hier Erregung, Erschrecken und Erschöpfung am Ende der Hinrichtung. Edith scheint unter Schock zu stehen, Hans muss sie beim Rückweg stützen.

Bei Jack London endet die Geschichte hier: Bloß ein paar Indianer – als Zeugen angeheuert – betrachten gemäß des Schlusssatzes die verlassen in der Luft tanzende Leiche des Gehängten. Eine spannende, neuartige Perspektive, die das für Hans und Edith trotz aller Belastung normale Geschehen in einen anderen Kontext rückt: Normalität wird nun als Konstrukt ausgewiesen. Kuleshov weicht von diesem Schluss ab. Nachdem Hand und Edith gegangen sind, baumelt kein Leichnam an dem Baum. Dafür sucht sie der Gehängte in ihrer Hütte heim: Wie eine Geistererscheinung, um die es sich womöglich auch handelt, betritt er mit anklagendem Blick das Innere, nimmt sich seine Schlinge vom Hals, übergibt sie seinen Richtern und Henkern, nimmt sich seinen Anteil des Goldes und stapft in die karge, unwirtliche Wildnis. Das erinnert eher an Ambrose Bierce als an London.
Man kann darin eine schwarzhumorige Pointe entdecken, nach welcher die Hinrichtung nach all den Ritualen und Mühen dann auch noch unbeabsichtigt erfolglos geblieben wäre. Spannender ist es vermutlich, darin die Heimsuchung des Gewissens durch den Getöteten zu sehen. So wenig wie Dennens Mord durch die Beseitigung der Blutflecken zu entfernen war, ist nun die Sühne nach ihrer Durchführung vom Tisch. Sie lastet schwer und erstaunlicherweise sinnt der Zurückgekehrte nicht einmal auf Rache. Er nimmt sich sein Gold, lässt mit anklagendem, vorwurfsvollem und verächtlichem Blick den Strick zurück und zeigt kein Interesse, länger in der Gesellschaft der Nelsons zu bleiben, die ihre tödlichen Absichten in aller Ruhe, nach dem Gesetz und seinen Ritualen durchgeführt haben, derweil Dennen einst als zwar habsüchtiger Charakter, aber doch auch als Verspotteter in rasender Wut agierte, möglicherweise im Zustand eines Kollers.
Den bloß scheinbar normalen Charakter der Sühne des Verbrechens vermittelt Kuleshov auch ohne die Perspektive der Indianer, indem er die Beherrschtheit der Gepflogenheiten eines Gerichtssaales in dieser kümmerlichen Hütte zwischen drei einander gut vertrauten Beteiligten als absurde Farce erscheinen lässt. Eine echte Gerichtssaalsituation lässt sich trotz aller Bemühungen kaum herstellen. Durch die Übertragung solcher Abläufe in diese menschenleere Einöde einerseits und dieses enge, vertraute Beziehungsgefüge andererseits lassen sich weder Recht noch Gerechtigkeit herstellen. Man kann aber – und das ist der Clou, der bei London gegen Ende sanft anklingt – noch einen zweiten Schritt machen: Nicht bloß lässt sich in dieser Konstellation in der Einöde nicht jene Gerechtigkeit herstellen, die in der Gemeinschaft in Ediths Heimat herrscht, sondern die Rituale und Gesetzmäßigkeiten der Zivilisation selbst werden in dieser Extremsituation ad absurdum geführt. Die geregelte, zivilisierte Hinrichtung nach einem Recht mit all seinen Ritualen wird hier als Obszönität entlarvt, derweil Dennens Mordtat wie auch Hans' Totschlagversuche nachvollziehbar erscheinen. All das läuft zusammen im Bild der Schlinge, die zwar beileibe keine perfekt geknüpfte Schlinge ist, aber doch als Schlinge bereits Technik, Kunstfertigkeit und vermeintliche Zivilisiertheit einerseits und tödliche Absicht andererseits in sich birgt – und damit etwas Perverses an sich hat. Hans' affektive Totschlagversuche haben in der Extremsituation und angesichts der Bedrohung, die mehrfach von Dennen ausgeht, etwas sehr Verständliches an sich, wohingegen das sachlich-nüchterne Richten & Hinrichten nach System etwas Befremdliches mit sich bringt.
Sicherlich wollte Kuleshov so wenig wie London ein archaisches Recht affektiver Gewalt gegen zivilisatorisch errungene Gesetze, die in der Wildnis an ihre Grenzen stoßen, ausspielen. Aber dass nicht bloß eine Hinrichtung nach dem Gesetz in einer Situation wie der geschilderten absurd anmutet, sondern auch rückwirkend jede sachlich-nüchtern geregelte Hinrichtung auch innerhalb zivilisierter Gesellschaften pervers anmutet, zeigt sich bei Kuleshov spätestens im anklagenden Blick des zurückgekehrten, gehängten Mörders, der auf den erschrockenen, ertappten Blick seiner Henker trifft.

Dieses grimmige kleine Kammerspiel über den Zynismus der Vorstellung gerechten Tötens, das in seiner Kürze enorm viel Biss aufweist, ist aber auch auf formaler Ebene überaus bestechend: Nicht bloß intensivieren Affektbilder lodernden Feuers, prasselnden Regens, siedenden Wassers oder tropfender Bohnenpampe immer wieder die latente oder manifeste Gewalt, sondern auch Bilder des Formverlustes bemüht Kuleshov mehrfach in dieser Geschichte des Gesetzes, das im neuen Kontext zur Farce gerät oder vielmehr seine Maske fallen lässt. So weicht der feste, vereiste Boden bald der flüssigen Fläche gestiegenen Wassers; so zerrinnt Ediths Antlitz nach dem Goldfund in der Wasseroberfläche innerhalb einer Schürfschale; und so verliert auch der Kamerablick seinen Halt, wenn die Figuren ihre Fassung verlieren, blickt aus Schrägen oder Untersichten in die Gesichter...

10/10

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