Der Krimi ist schon lange der Deutschen liebstes Kind, das im Fernsehen sein wahres Zuhause gefunden hat. Wo früher aber noch hauptsächlich Archetypen wie Derrick im Mittelpunkt standen, hat es insbesondere der Tatort geschafft, seinen Kommissarinnen und Kommissaren ein Gesicht zu geben und ihnen tatsächlich auch eine tiefere Charakterisierung auf den Weg zu geben. Doch auch hier steht der berufliche Alltag weiterhin unangefochten im Mittelpunkt der Geschichte, seine Auswirkung auf die Ermittler mag angedeutet werden, wirklich im Zentrum steht aber weiterhin die Klärung des Falles. „In aller Stille“ geht hier von Anfang an einen erfrischend anderen Weg, der Film beginnt nicht mit einem Verbrechen, sondern im Alltag der Kommissarin, von deren Beruf der Zuschauer aber zu diesem Zeitpunkt noch nichts weiß.
Kommissarin Anja Amberger hat zwei Kinder, eine pubertierende Tochter und einen Sohn im Kindergartenalter, und befindet sich momentan im Schwebezustand zwischen verheiratet und geschieden. Zwar ist die Scheidung de facto schon vollzogen, bedarf aber noch einer Unterschrift, um rechtskräftig zu werden, was zu Streit führt, da man sich nur schwer einigen kann, wie das Sorgerecht für die Kinder nun genau aussehen soll. Ihren beruflichen Alltag lernen wir kennen, als sie zu einem Fall gerufen wird, der in einem klassischen Krimi ungewohnt unspektakulär wirken würde. Eine Frau berichtet über ihre Nachbarn, diese hätten ihren Sohn in der Nacht auf der Terrasse stehen lassen, im Winter. Die Eltern sprechen von ein paar Minuten, die Nachbarin von zwei Stunden, die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen, aber wo genau, weiß man eben nicht.
Der Fall ist auch deswegen recht heikel für die Kommissarin, da ihr Sohn den gleichen Kindergarten besucht wie der Junge, der angeblich misshandelt werden soll, und auch sie in ihrem stressigen Alltag nicht immer über die Souveränität verfügt, über den Dingen zu stehen. In einer Szene recht früh im Film geht sie mit ihrem Sohn zum Bäcker, wo sie die Familie trifft, die sie kurz davor noch befragt hat. Da ihr Sohn unaufhörlich quengelt und nicht hören will, schlägt Amberger einen etwas härteren Ton an. Die feine Kommissarin hetzt anderen Leuten das Jugendamt auf den Hals, wird mit ihrem eigenen Kind aber auch nicht fertig, ist der Eindruck, der sich nicht nur beim verdächtigten Vater aufdrängt, sondern durchaus auch beim Zuschauer. Kurze Zeit später wird Amberger von einem Anruf geweckt, der sie darüber informiert, dass der Junge verschwunden ist, dessen Familie sie mittlerweile bestens kennt. Ausgerechnet an Ostern, wenn sie eigentlich freihaben sollte, um Zeit mit ihrer eigenen Familie zu verbringen. Doch die Zeit drängt, denn schließlich weiß zu diesem Zeitpunkt niemand, ob der Junge sich nur irgendwo versteckt oder ob er nicht vielleicht schon tot ist.
Über den ganzen Film hinweg findet ein ständiges Pendeln zwischen Privaten und Beruflichen statt. Man erfährt lange nicht, was wirklich mit dem Jungen passiert ist und wird in bester Krimi-Manier auch ganz bewusst im Unklaren gelassen, das sich stets in Vermutungen äußert, eindeutige Antworten aber auf später verschiebt. Das eigentliche Herzstück des Films bilden aber in jedem Fall seine Figuren, allen voran die Kommissarin, deren Gegenwart und Vergangenheit langsam aber sicher immer mehr enthüllt werden. Hier verschwimmen dezente Andeutungen mit Aussagen, die kaum eindeutiger und drastischer sein könnten, um ein Bild von einem Menschen zu zeichnen, der so komplex und vielschichtig ist, dass man ihn in einem einzigen Film eigentlich kaum beschreiben kann.
Hier wurde die Chance genutzt, ein klassisches Genre deutscher Unterhaltung zu nutzen, um etwas zu erschaffen, das größer ist als vieles, das vorgibt, groß zu sein. Der Film ist gesättigt von Emotionen und Beobachtungen, Melancholie, Traurigkeit und Hoffnung. Immer wieder werden Andeutungen gemacht, die entweder dezent auf eine lange Geschichte der Figuren hinweist, die schon lange existierten, bevor der Film anfing, oder die so pointiert sind, dass sie in einem einzigen abfälligen Halbsatz bereits alles erzählen, was es zu erzählen gibt. Und ganz nebenbei erklärt der Film auch noch Dinge, die eigentlich gar nicht erklärbar sind, macht sie begreiflich, ohne dabei zu bemüht zu sein, Antworten zu finden, wo keine sind. Er weckt Verständnis, wo Dinge passieren, die sich nicht verstehen lassen. Er bietet darüber hinaus sogar Erklärungen, ohne sie als Entschuldigung zu verstehen, und entwirft somit ein unglaublich komplexes Bild von menschlichen Abgründen, die sich oft nur wenig von Alltäglichkeiten unterscheiden. Der deutsche Film ist jedenfalls noch lange nicht tot, er versteckt sich nur manchmal im Fernsehen.