Patagonien - trostloser Süden Argentiniens, faktisch der Arsch der Welt. Die unzähligen Flamingos, die in den Lagunen des kargen Landstrichs alljährlich ihr Sommerquartier beziehen, scheinen die einzige Abwechslung für die wenigen Bewohner der lebensfeindlichen Einöde. Ihre Ankunft bedeutet Veränderung, weckt Jahr für Jahr die Hoffnung der in diesen Landstrich verdammten Menschen, sie könnten es den Zugvögeln gleichtun und ihr tristes Leben einfach hinter sich zurücklassen. Doch ist der Sommer vorbei, fliegen nur die Vögel davon und lassen die, die in sie so viel Hoffen interpretierten, mit ihrer stetig fatalistischer werdenden Einstellung zum Dasein allein.
In diesem Jahr jedoch kommt mit den Flamingos noch ein weiterer Zugvogel in das gottverlassene Lagunendorf - ein junger Ingenieur aus der Hauptstadt soll Vermessungen für eine Straße anstellen, auf der ein großes Passagierschiff zum Meer befördert werden soll. Das Schiff wird den Patagoniern zum Sinnbild des Aufbruchs, zum Katalysator der Urbanisierung, die schon viel zu lange einen Bogen um das Dorf gemacht hat. Doch nicht jeder Bewohner sieht dem Herannahen des Fortschritts mit freudiger Erwartung entgegen. In dem abgelegenen Landstrich hat sich ein quasi rechtsfreier Raum etabliert, in dem Besitz gleich Ansehen gleich Macht ist. Da der Bau einer frequentierten Straße unweigerlich das Anrücken der staatlichen Legislative bedeutet, fürchten diejenigen, deren Macht sich auf die rückständigen Strukturen begründet, zurecht um ihren Einfluß. Hier drängt sich die Frage auf, ob jenes ach so ferne Dorf nicht auch durchaus als Synonym für die wuchernde Krebszelle stehen kann, die unsere Fortschrittsgesellschaft unbemerkt und verleugnet zu einer vagen Hülse zerfressen hat.
Die Konflikte, die der bevorstehende Straßenbau in die „heile“ Welt beschwört, sind alt wie die Menschheit selbst und bereits unzählige Male im Film ausgewertet. Auch die Protagonisten sind nicht nur obligatorisch für ein Sozialdrama vor einer archaischen Kulisse wie sie das von der Zeit vergessene Patagonien bildet, sondern bereits Klischees: der Homo, dessen Andersartigkeit man nicht akzeptieren will, nicht akzeptieren kann; ein pädophiler Patriarch, dessen Neigungen von der Gesellschaft nicht nur toleriert, sondern sogar sanktioniert werden; eine Matriarchin mit der Aura einer untergetauchten Faschistin, die mit Hilfe des Klerus, der Fortschritt wie der Teufel das Weihwasser fürchtet, ihre Suprematie selbst über den soeben erwähnten Patriarchen aufrecht erhält. Der Ingenieur ist natürlich nicht nur Erlöser; aus der Sicht der durch Modernisierung Verlierenden, ist er Verführer, der Regen für den Keim der Unzucht, vielleicht der Antichrist in Person. Folgerichtig findet er auch in der Dorfhure (den Hexen hatte man ja ebenfalls sexuelle Freilebigkeit zur Last gelegt) seine einzige Verbündete...
Manche sagen, die Welt gleicht einer Schlaufe, in der die Vergangenheit auch die Zukunft ist. Orte losgelöst aus der Illusion von Zeit sind natürlich ideal, dies zu realisieren.
png, juni 1997