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Asuna ist einsam. Ihr Vater ist viel zu früh gestorben, und ihre Mutter arbeitet tagsüber im Krankenhaus. In der Schule hat sie nur wenige Freunde. Doch eines Tages trifft sie auf einen mysteriösen Jungen, in den sie sich augenblicklich verliebt. Was hat es mit ihm auf sich? Kommt er tatsächlich aus einer anderen Welt, tief unter der Erde, wie ihr neuer Lehrer Ryuji Morisaki glaubt? Die Ereignisse überschlagen sich, und plötzlich befindet sich Asuna zusammen mit Morisaki auf der Reise nach Agartha – Agartha, das phantastische Land, in dem noch Götter wohnen. Das Land, mit dessen Hilfe Morisaki seine verstorbene Geliebte ins Leben zurückholen will …

Der Regisseur und Literaturwissenschaftler Makoto Shinkai macht schon eingangs klar, dass seine Geschichte von einer klassischen Sage inspiriert ist, die überall und seit ewigen Zeiten erzählt worden ist, und die wir als Orpheus in der Unterwelt kennen. Es geht also um die Wiedererweckung einer geliebten Toten. Und noch von einer anderen Quelle bezieht Shinkai seine Inspiration. Die Reise nach Agartha ist nämlich ein offensichtlicher und pompöser Kniefall vor dem Meister des Anime höchstpersönlich: Hayao Miyazaki. Ist man erstmal auf dieser Fährte, bekommt man sie so schnell nicht wieder los. Dann sieht fast jedes Detail wie ein Miyazaki-Zitat aus. Hufspuren unsichtbarer Wesen, junger Mann auf Reittier, Schattenkreaturen mit glühenden Augen; das alles zum Beispiel schaut verdächtig nach Prinzessin Mononoke aus. Das Charakterdesign erinnert stark an die Handschrift Miyazakis. Sogar die Musik hat teilweise was von dessen Stammkomponisten Joe Hisaishi.

Ist man dadurch gezwungen, Shinkai an Miyazaki zu messen, zieht Ersterer klar den Kürzeren. Der Hauptunterschied zwischen den beiden besteht darin, dass Miyazaki ein wesentlich „intuitiverer“ Regisseur ist. Er muss seine Geschichte nicht erst mit Thesen und Erklärungen rechtfertigen; doch genau das tut Shinkai hier. Das hat zur Folge, dass Die Reise nach Agartha zu konstruiert und nur wenig organisch daher kommt. Mit anderen Worten: Man weiss recht schnell, wie der Hase läuft. Das Wundersame, das den Miyazaki-Filmen eigen ist, stellt sich deswegen leider nie ein.

Andererseits kann man Shinkai nicht vorwerfen, sich keine Mühe zu geben. Denn tatsächlich ist sein Film alles andere als schlecht! Es macht Spass, den beiden Forschungsreisenden nach Agartha zu folgen. Die kurzen Action-Szenen sind ordentlich inszeniert, das Artdesign klasse und die Animation absolut edel, wenn auch zu hochglanzpoliert. Die Story ist schnell durchschaut, aber Shinkai packt genug kleine Twists in den Film, um den Zuschauer bei Stange zu halten. (Als eine Figur ohne Vorwarnung plötzlich den Arm abgerissen bekam, musste ich mich schon kurz wundern, ob ich meine Brille richtig geputzt habe.) In diesen Momenten schafft es Shinkai, sich von seinem Vorbild zu lösen und eine eigene Handschrift zu entwickeln.

Aber die Summierung solcher Momente ergibt noch kein rundes Ganzes. Abstriche machen muss man auch bei der Hauptfigur Asuna. Zugegeben, sie ist süss und nett und mutig, aber sie ist eben nur süss und nett und mutig. An alle Anime-Regisseure dieser Welt: Solche Mädchen gibt es nicht! Es – gibt – sie – nicht! Asuna hat zu wenig Kanten, als dass sie eine gute Hauptfigur abgibt; noch dazu ist ihre Storyrelevanz marginal. Das spielt Morisaki eine wesentlich wichtigere und spannendere Rolle.

Ich hatte während des Films ständig das Gefühl, Shinkai versuche die Essenz Miyazakis zu fassen, verfehle sie aber immer ganz, ganz knapp. Das ist, wie einem Stürmer dabei zu zusehen, wie er zehnmal aufs Tor schiesst, aber jedes verdammte Mal nur den Pfosten trifft. Einerseits wünscht man sich, ihm möge doch endlich ein Treffer gelingen. Andererseits weiss man: „Irgendwas macht der falsch.“ So ist es auch hier: Shinkai engagiert sich redlich, aber er kriegt’s einfach nicht ganz hin. Zu fragen wäre natürlich, ob es die richtige Taktik ist, derart unverblümt Miyazaki zu folgen. So wirkt der Film, als hätte er Bruchstücke aus einer fremden Filmographie zusammen gekratzt und zu einem hübschen Patchwork verdichtet. Aber das Motto des Regisseurs scheint gewesen zu sein: Lieber passabel kopiert und kombiniert, als schlecht selbst erfunden. Unterm Strich ist die Taktik ganz gut aufgegangen.

7.5 / 10

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