Der italienischstämmige New Yorker Marty (Ernest Borgnine) arbeitet in einer Metzgerei, geht am Wochenende gern mit seinen Freunden aus und hat allerlei Trubel mit seiner Mutter oder seinen fünf Geschwistern. Nur eines fehlt ihm, was ihm auch immer wieder durch kritische Kommentare seiner Mitmenschen bestätigt wird: eine Frau. Als er bei einer Tanzveranstaltung die sitzengelassene Clara (Betsy Blair) trifft, ändert sich das - für beide wird es ein unvergesslicher Abend.
Ernest Borgnine verkörpert den Durchschnittstypen Marty mit einer Intensität und Natürlichkeit, die im Hollywoodkino der 50er ihresgleichen sucht. Vor allem mimisch überzeugt er durchweg, verleiht seinem Charakter so viel Charme und Herzlichkeit, dass er dem Zuschauer innerhalb kürzester Zeit ans Herz wächst. So viel pure Gutmütigkeit und Herzensgüte findet man selbst im Kitsch-Kino jener Epoche nur selten, und das ganz ohne Klischees oder Unglaubwürdigkeiten. Auch der restliche Cast überzeugt mit ausdrucksstarkem Spiel, das den Alltagsfiguren viel mehr Leben einhaucht, als es irgendwelche Heldenstereotype jemals könnten. In Sachen Figurencharakteristik und Darstellung des gewöhnlichen New Yorker Alltags ist „Marty" ein ganz außergewöhnlicher 50er-Jahre-Hollywood-Film.
Was ihn von den zahllosen anderen Liebesgeschichten des klassischen Hollywoodkinos so grundlegend abhebt, ist dabei gerade sein unspektakulärer Inhalt: Hier gibt es keine tragischen Schicksale, keine unheilvollen Verwicklungen oder heldenhaften Glanztaten, auch keine ungeheuren Schwierigkeiten, die beseitigt werden müssen. Nur zwei so alltägliche wie liebenswerte Charaktere, die inmitten des Großstadttrubels an ihrer Einsamkeit leiden und an den mitunter grausamen Handlungsweisen ihrer Mitmenschen zu verbittern drohen. Durch die Begrenzung der Handlung auf ein einziges Wochenende (wohl der Fernsehvorlage geschuldet, ebenso wie die wenigen Handlungsorte und die gewisse Dialoglast) bleibt auch das Happy End realitätsnah: Hier wird nicht behauptet, die große Liebe für den Rest des Lebens gefunden zu haben - obwohl die Hoffnung natürlich besteht - hier geht es einzig und allein darum, die Chance auf Glück, die sich unerwartet geboten hat, zu nutzen. Darin besteht das ganze Happy End. Ein kleines feines Meisterstück in Sachen realistischer Liebesgeschichte.
Dank der starken Dialoge, die mal witzig und pointiert sind, mal den Figuren die Chance geben, ihre seelischen Narben zu offenbaren, der flotten, geradlinigen Inszenierung und den tollen New Yorker Settings unterhält „Marty" durchgehend auf hohem Niveau. Das Geflecht von Nebenfiguren, die stets mit bestimmten Erwartungshaltungen an Marty herantreten - er solle endlich heiraten, er solle mit auf Partys kommen, er solle lieber eine andere Frau heiraten - und seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse nur am Rande bemerken, ergibt ein starkes Bild von emotionaler Vernachlässigung, die eben zu Einsamkeit und Unverständnis führen kann. Für diese Dekade ein psychologisch erstaunlich tiefgründiger Einblick in alltägliche Problematiken.
Dass der Film aus heutiger Sicht in manchen Belangen arg altmodisch scheint (etwa in seiner kritiklosen Darstellung von Geschlechterrollen, seien es die Mutter und Tante, die sich darüber beschweren, für niemanden mehr kochen zu können, wenn die Kinder ausziehen, oder Clara, die sich für die Verweigerung eines Kusses entschuldigen und erklären muss), sollte man wohlwollend der Produktionszeit anrechnen. Auch der allzu kitschige Score, der in einem gewissen Gegensatz zum realitätsnahen Inhalt steht, stört auf Dauer ein wenig.
Aber wenn man über solche Dinge hinwegsieht, kann man in „Marty" einen herzerwärmend sympathischen, leise emotionalen Liebesfilm finden, der mit Humor, Sensibilität und einem großartigen Cast voll überzeugt. Für Romantiker und alle, die es doch noch werden wollen, ein kleines Juwel.