Review

The Kiss in the Tunnel (1899) von George Albert Smith
The Kiss in the Tunnel (1899) von Bamforth & Co

Küsse im Tunnel - schon seit langem sind sie Bestandteil blöder Witze: In der vermeintlichen Sicherheit der Dunkelheit wird im Zugabteil die bzw. der Falsche geküsst, wenn nicht sogar im Gegenzug die bzw. der Falsche geohrfeigt und/oder von anderen Mitreisenden verdächtigt wird.
In den ersten Jahren der Filmgeschichte, in denen Lauflängen von einer knappen Minute gang und gäbe waren, konnte dieser Stoff schonmal einen ganzen Kurzfilm ausmachen. In Edwin S. Porters "What Happened in the Tunnel" (1903) etwa; ein formal für die Zeit und den Regisseur - der im selben Jahr immerhin den kaum zu überschätzenden "The Great Train Robbery" (1903) dreht - relativ simpler Film, der in zwei durch Schwarzbild getrennten Einstellungen seine - nicht einfach bloß simple, sondern noch dazu ärgerliche - Geschichte ausbreitet: Ein fremder Mann macht im Zug einer jungen Frau Avancen, plötzlich wird es dunkel - offenbar ist man in einen Tunnel eingefahren - und als sich das Zuginnere wieder erhellt, stellt sich heraus, dass er aufgrund eines Platzwechsels im Dunkeln nicht die junge Frau, sondern deren ältere, fette Negermagd küsst! Haha! (Immerhin: Die Sympathien sollen zwei pfiffigen Frauen gelten, die sich erfolgreich einen aufdringlichen Kerl vom Halse schaffen.)

Vier Jahre zuvor gibt es den ersten Kuss im Tunnel auf der Leinwand zu betrachten - und zwar gleich zweimal: "The Kiss in the Tunnel" von George Albert Smith und kurz darauf einen anonym abgedrehten Nachfolger gleichen Titels von Bamforth & Co.
Schaut man auf den bloßen Inhalt beider Filme, fällt (positiv?) ins Auge, dass auf eine mehr oder weniger überraschende Pointe völlig verzichtet wird. In beiden Fällen begnügt man sich mit dem an sich schon leicht humorvollen Umstand, dass das Dunkel des Tunnels zum Kuss verleitet. (Ein Umstand, der desto komischer gerät, je häufiger er auftaucht: Neben Porters Titel werden noch Zeccas "Une idylle sous un tunnel" (1901) sowie "Love in a Railroad Train" (1903) davon profitieren, dass die Akteure im Verborgenen etwas versuchen oder tun, was den vorangegangenen Filmen zufolge offenbar alle in diesen Situationen versuchen oder tun.) Neben diesem leichten Anflug von Komik ist der Kuss selbst der Höhepunkt - Wendungen, Pointen existieren hier noch nicht, in den Filmen des 19. Jahrhunderts dominierten Situationen oder Ereignisse noch über komplexere Handlungen.
Formal gehen beide Filme recht ähnlich vor, unterscheiden sich aber in bestimmten Punkten deutlich voneinander: Sowohl bei Smith, als auch bei Bamforth & Co wird die Geschichte in drei Einstellungen dargereicht. Smith drehte zunächst den Kuss eines Paares im Zugabteil - es handelt sich bei den Küssenden um Smith selbst und seine Frau - und ließ das Material schließlich in einen der damals populär gewordenen phantom rides einfügen: So sieht man zunächst eine Kamerafahrt über die Bahngleise in einen Tunnel (während auf dem Gleis daneben ein Zug aus dem Tunnel hinaus & an der Kamera vorbei fährt, was das Bild sehr dynamisch werden lässt), dann folgt die Einstellung des Kusses (der Mann sitzt links, die Frau sitzt rechts, hinter ihnen eine Zugabteil-Attrappe mit schwarzen Fenstern) und schließlich endet der Film mit einer Kamerafahrt aus der Dunkelheit des Tunnels hinaus ins Freie.
In der Bamforth-Version hingegen bleibt die Kamera stets statisch: Aus dem Vordergrund fährt ein Zug von links unten durchs Bild bis in einen Tunnel (im Bildmittelpunkt), dann folgt die Kussszene und die dritte Einstellung zeigt, wie sich aus dem fernen Hintergrund von oben links allmählich der Zug aus dem Tunnel heraus in den Vordergrund bewegt.

Eine Handlung in drei miteinander zusammenhängende, einander quasi kommentierende Einstellungen aufzuteilen war 1899 durchaus noch ein Novum - Smith, der auch das Einbinden von Großaufnahmen inmitten von Totalen und Halbtotalen etabliert hat, hat ebenfalls als einer der ersten überhaupt verschiedene Einstellungen zu einer einheitlichen Szene zusammengefügt. Dass man bei Bamforth & Co das Einfahren in den Tunnel und das Hinausfahren aus dem Tunnel jeweils in einer einzigen Einstellung aus unterschiedlichen Blickrichtungen gefilmt hat - während bei Smith eine Einstellung in eine andere Einstellung einer Kamerafahrt hineinmontiert wird -, spricht für ein sensibilisiertes Bewusstsein gegenüber diesem Verfahren, radikalisiert es dieses doch noch. Doch die Umsetzung mutet leider ziemlich grobschlächtig an - nicht nur gegenüber späteren Filmen, auch gegenüber der Smith-Version wirkt der Anschluss der dritten an die zweite Einstellung ausgesprochen sperrig. Bei Smith gerät nach dem Kuss das gesamte Bild aufgrund der Fahrt in Bewegung - das sorgt nicht nur für mehr Dynamik, sondern auch dafür, dass das Geschehen - die Fahrt - sofort wieder wahrgenommen wird, zumal auch gut sichtbar der helle Ausgang zum Blickfang gerät, dem sich die Fahrt zielstrebig annähert um ihn schließlich zu durchdringen. Die statische Einstellung der Bamforth-Version lässt diese Fahrt als Ereignis nach dem Kuss ganz fern und recht unauffällig im Hintergrund starten: Das entscheidende Ereignis ist hier daher das Ankommen des Zuges im Vordergrund - ähnlich der Ankunft des Zuges im berühmten "L'Arrivée d'un train à la Ciotat" (1895) der Gebrüder Lumiere -, und nicht mehr das Verlassen des Tunnels, welches von Interesse sein sollte. Man muss sich sicherlich vor Augen führen, dass ohne Kameraschwenks oder komplexere Montage mit noch mehr Einstellungen dieses Austreten aus dem Tunnel auch nur noch wie bei Smith als Kamerafahrt aus dem Tunnel hätte inszeniert werden können, was wiederum nicht ganz zur ersten Einstellung gepasst hätte; dennoch wirkt das Resultat eher primitiv als innovativ, wenngleich die grundlegende Entscheidung für drei separate Einstellungen schon ein Schritt in die richtige Richtung darstellte.

Filmhistorisch sind - für die Entwicklung der Montage - beide Filme von einigem Interesse, stehen sie doch für wichtige Stationen der Pionierzeit des Films. Die Version von George Albert Smith weiß mit ihren flüssigeren Übergängen und der Verbindung von Fahrten und Montage insgesamt eher zu überzeugen.
7/10 für die Smith-Version, 6/10 für die Bamforth-Version.

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