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Im Mittelpunkt des Epos MEGALEXANDROS des griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos steht nicht, wie der Titel vermuten lassen könnte, der makedonische Herrscher und Eroberer Alexander der Große, sondern ein griechischer Rebell und Dorftyrann, dessen Aufstieg und Untergang im Laufe der dreieinhalb Stunden dokumentiert werden. Dokumentation ist hierbei tatsächlich der richtige Ausdruck, da Angelopoulos seinen Film in einer außerordentlich ungewöhnlichen, anstrengenden Weise inszenierte, die mich vermuten lässt, dass der Film nur einem äußerst kleinen Kreis gefallen wird. Ob die geschilderten Ereignisse der historischen Wirklichkeit entsprechen oder ob es sich um reine Fiktion handelt, weiß ich nicht. Auch über den Inhalt an sich kann ich nicht viel sagen, da es eine Handlung im eigentlichen Sinne nicht gibt, und das, was an Ereignissen zu sehen ist, dem Zuschauer bruchstückhaft, fragmentarisch präsentiert wird. MEGALEXANDROS ist ein Film, der sich vor seinem Publikum verschließt. Wo andere Filme alles daran setzen, die Geschichte, die sie erzählen, dem Betrachter näher zu bringen, ihn für sich zu begeistern, da verschließt sich MEGALEXANDROS in seinem Bilderrausch, den nichts aus der Ruhe bringen zu können scheint.

Was zunächst auffällt, ist, dass Angelopoulos sich alle Zeit nimmt, die er finden kann, um Alexander von seiner Befreiung aus dem Gefängnis, seiner Rückkehr in sein Heimatdorf, dessen Belagerung, und schließlich bis zu seinem Tod zu begleiten. Sein Inszenierungsstil erinnerte mich an Filme, die der ungarische Regisseur Miklós Jancsó in den 60ern drehte. In MEGALEXANDROS wie beispielsweise in CSIGALLOSOK, KATONÁK scheint die Kamera förmlich entfesselt, verfolgt die Schauspieler, klebt an ihren Fersen und fährt durch die Schauplätze, wo andere Regisseure einen Schnitt gesetzt hätten. Angelopoulos treibt diesen Stil nie derart auf die Spitze wie Jancsó, seine Kamerafahrten dauern meist nie so lang wie die seines ungarischen Kollegen, dennoch wirkt MEGALEXANDROS weitaus weniger flott, eher langatmig und lethargisch, im Vergleich zu dem eben erwähnten CSILLAGOSKO, KATONÁK. Wenn etwas Aufregendes passiert, lässt Angelopoulos uns meist nicht daran teilhaben. So sieht man in einer Szene ein Boot, das um einen Felsen herumrudert, aus unsrem Blickfeld verschwindet. Anschließend hört man Schüsse, Gefechtlärm. Statt die Kamera dem Boot hinterher gleiten und um den Felsen schauen zu lassen, verharrt sie regungslos auf den Wellen des Flusses. Konsequent, von der ersten bis zur letzten Sekunde, hält Angelopoulos diesen Stil durch. Die Kamera wahrt dabei immer eine gewisse Distanz zwischen dem Publikum und den Figuren. Gesichter in Nahaufnahme findet man deshalb ebenso wenig wie eine Hauptperson, mit der sich der Betrachter identifizieren könnte. Selbst Alexander, der ja augenscheinlich der Held des Films ist, bleibt einem fern, obwohl man über ihn mehr erfährt als über alle übrigen Personen des Films zusammengenommen. Es ist unmöglich, in den Film einzutauchen, ihn vollkommen zu verstehen, die Distanz zwischen sich und ihm zu überbrücken. Wie oben erwähnt hat das Ganze mehr von einer Dokumentation als von einem herkömmlichen Spielfilm. Die Kamera fährt teilnahmslos durch Alexanders Heimatdorf und zeichnet auf, was sich dort abspielt, ohne irgendeine Dramaturgie zu berücksichtigen, ohne dass das, was sie aufnimmt, einen roten Faden erkennen lässt. Dazu passt auch, dass der Film weitgehend stumm bleibt, Dialoge äußerst selten auftreten, und wenn, dann nicht viel zum Verständnis beitragen, sodass man die eigentliche Geschichte mehr erraten muss als verstehen kann.

Klar ist, dass Alexander zu Beginn des Films aus dem Gefängnis befreit wird, wo er wegen rebellischer Umtriebe festsitzt. Nachdem er mit seinen Anhängern, weiteren Gefängnisinsassen, offenbar in der Silvesternacht, die das Jahr 1900 einläutet, eine Gruppe Engländer gefangen nimmt, die als Touristen einen griechischen Tempel besichtigen, zieht er durch Dörfer des Umlands, wo sich ihm unter anderem italienische Anarchisten anschließen, bis er sein Heimatdorf erreicht, in dem sich der Film schlussendlich ansiedelt und bis zu seinem Ende bleiben wird. Was genau Alexanders Ziele sind, welche politische Motivation hinter seinen Taten steckt, lässt sich höchstens erahnen. Offenkundig ist, dass die Dorfbewohner ihn zunächst wie einen Messias empfangen, um ihm dann, als er sich immer mehr zu einem Tyrannen entwickelt, Erschießungen der eigenen Leute durchzuführen beginnt und durch sein aufrührerisches Verhalten die Regierung dazu veranlasst, das Dorf zu belagern und in offene Kampfhandlungen mit ihren Bewohnern zu verfallen, ihre Sympathien aufzukündigen und sich gegen ihn wenden. All das ist in derselben ruhigen, besonnen Emotionslosigkeit dargestellt. Ob ein Fest gefeiert wird, ob jemand den Tod am Galgen stirbt, ob Alexander sich allein in seinem Zimmer aufhält, wo ein unheimliches Brautkleid an der Wand hängt: was genau in den Szenen geschieht, welche Gefühle in ihnen enthalten sind, das interessiert Angeloupolos Kamera nicht, die lediglich darauf achtet, adäquat einzufangen, was vor ihr geschieht, sich bloß um die reinen Handlungen kümmert, nicht um das Innenleben derer, die diese Handlungen ausführen. Dadurch erhält der Film nicht nur etwas Langatmiges und Sperriges, sondern auch etwas Beruhigendes. Auffallend ist auch, dass Angeloupolos seinen Alexander zu Beginn als mythische Gestalt inszeniert, während er zum Schluss einen schmutzigen, unspektakulären Tod stirbt, der nichts mehr von seinem früheren Glanz erahnen lässt. Wir sehen ihn quasi durch die Augen der Dorfbewohner, die ihn als Helden empfangen und als Ungeheuer vernichten.
Gleich zu Beginn wird das in den beiden Szenen deutlich, die mir von allen am besten gefallen haben. Nachdem Alexander aus dem Gefängnis gerettet wurde, sieht man eine in ein mystisches Licht getauchte Lichtung, von Nebel umwabert, auf der ein weißes Pferd steht. Daneben liegt ein antiker Helm. Alexander betritt den Lichtkreis, setzt sich den Helm auf den Kopf, besteigt das Ross, reitet davon. Jetzt ergießen sich seine Anhänger aus den Schatten, nehmen Waffen auf, die ebenfalls auf dem Boden herumliegen, und folgen ihm. Diese Szene erinnerte mehr als deutlich, vor allem durch die Beleuchtung, an gewisse christliche Renaissancegemälde. Fast noch beeindruckender fand ich die Szene kurz darauf, wenn die betrunkenen, fröhlichen Engländer sich von einem einheimischen Führer in der Morgendämmerung zu einem Tempel bringen lassen. Bis zum Rand einer Plattform begibt sich die fröhliche Gesellschaft, während der Führer ihnen etwas vom Gott der Sonne, dem der Tempel geweiht sein soll, erzählt. Plötzlich erstarren die Engländer, weichen von der Plattform zurück. Die Kamera tut es ihnen nicht gleich, bleibt starr an dem Meer dahinter haften, wo die Sonne einen Streifen Licht vom Horizont bis zu dem Tempel zieht. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis das auftaucht, was die Engländer so verschreckte: zu einer gleichzeitig bedrohlichen und erhabenen Musik erhebt sich Alexander mit seiner antiken Rüstung und seinem Bart, der kaum was von seinem Gesicht sehen lässt, auf dem Rücken seines Pferds aus der Tiefe. Kaum erscheint er in beinahe übermenschlicher Größe vor der Kamera, wendet die sich um und zeigt die zusammengekauerten, schlotternden Engländer. Überhaupt ist MEGALEXANDROS rein optisch ein wahres Vergnügen. Ein bisschen erinnerten mich einige Bilder an die Filme Jodorowskys oder Arrabals, natürlich ohne die Schauwerte, die man bei diesen beiden Regisseuren findet. Felsige Hänge, ärmliche Dörfer, Schafsherden, Schluchten, über die morsche Brücken führen: das alles verdichtet Angeloupolos zu einer Landschaft, die den Film wirken lässt, als würde er nicht im Jahre 1900, sondern in einer archaischen Vorzeit spielen.

MEGALEXANDROS ist ein einzigartiger Film, hochgradig fordernd, sich selbst hermetisch verriegelnd, sodass seine dreieinhalb Stunden für die meisten zur Qual werden könnten. Andererseits ist er in gleichem Maße eine äußerst faszinierende Angelegenheit, mit einer großartigen musikalischen Untermalung und einem Ende, das ich ziemlich brillant fand. Wem Pasolinis EDIPO RE und MEDEA noch zu kommerziell und leicht waren, der könnte hier einen Film finden, an dem er sich die Zähne ausbeißt. Mich hat MEGALEXANDROS jedenfalls hochgradig überfordert. Nichtsdestotrotz ist er auch ein Film, der mir gerade deshalb, wegen seinen Eigenheiten und seinen beeindruckenden Bildern lange im Gedächtnis bleiben wird.

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