„Persona" ist ein Film, bei dem man noch im Kinosessel, bevor das Licht wieder angeht, überlegt, ob und wie man den anderen Besuchern jetzt noch in die Augen schauen, geschweige denn mit ihnen reden soll - derartig intensiv, intim und schonungslos offen ist der Film und bedarf, sollte es das erste Sehen gewesen sein, einige Zeit des Erholens und Reflektierens. Entsprechend ist der nachfolgende Text weniger eine Rezension als vielmehr ein Nachdenken über einzelne Szenen und Aspekte für jene, die den Film bereits gesehen haben, er schlägt auch einen Bogen zu Bergmans Kammerspiel-Trilogie („Wie in einem Spiegel", „Licht im Winter", „Das Schweigen").
Von der ersten Sekunde des schnellgeschnittenen, eines zeitgenössischen Clips würdigen Bildertrommelfeuers an ist klar: Hier steht der Regisseur und seine Manipulationsmöglichkeiten des narrativen und audiovisuellen Instrumentariums im Vordergrund; hier sollte man nicht glauben, was man sieht, und wird man doch einmal vom erzählerischen Strom eingelullt und fortgetragen, darf man sich im schockartigen Erwachen nur die Schuld an der eigenen Verführbarkeit anrechnen. Denn immer wieder und mit zunehmendem Nachdruck läßt Bergman keine Zweifel daran, daß er hier die Grenzen des Mediums, des traditionellen Fabulierens und Verstehens einer Geschichte in Bildern und Tönen auslotet. Dieses Experiment ist ein konsequenter, trotzdem aber gewaltiger Sprung vom bereits sehr komplexen und avantgardistisch anmutenden „Das Schweigen"; heute ist „Persona" um keinen Tag gealtert und kann mit Leichtigkeit neben dem als Referenz gemeinten „Mulholland Drive" von David Lynch bestehen, ja übertrifft diesen in seiner Kompromißlosigkeit und im Bekenntnischarakter.
Aus dem Inneren des Projektors: Die Kohlelampe entflammt, der Zelluloidstreifen beginnt zu rattern, und das allererste, gleichzeitig expliziteste und bis in Zensurbelange hinein kontroverseste Zeichen der symbolisch aufgeladenen Bildersalve ist - der erigierte Penis.
Nicht allein seine im westlichen Abendland tradierte Bedeutung als männliches Macht- und Kraftsymbol, auch seine rein graphische Verweisfunktion - ähnelt er doch einem zeigenden Finger - machen unmißverständlich klar: Hier spricht nicht nur der Autor, sondern ein männlicher und sexuell sich seiner selbst bewußter obendrein. Sexualität (aus männlicher Perspektive) zieht sich mehr oder weniger manifest durch den gesamten Film, und man täte ihm nicht unrecht, ihn als eine einzige erotische Phantasie zu bezeichnen.
Eine lange Schlüsselszene: Angetrunken, aber flüssig und detailliert erzählt Alma Elisabeth die Geschichte von den beiden „sehr jungen" Knaben, denen sie und ihre Freundin spontan am sonnigen Strand zu ihrem ersten Geschlechtsverkehr verhalfen und auch selbst sündiges Vergnügen dabei empfanden (die als gerecht empfundene Strafe, die Abtreibung nämlich, soll hier außen vor bleiben). - Es wäre zu einfach und zu bequem, diese Geschichte mit dem schnell zuhandenen Schlagwort der Altherrenphantasie abzuqualifizieren, denn ist sie nicht vielmehr eine Knabenphantasie, wenn auch aus dem Mund einer attraktiven Frau? Eine jener Geschichten, die dem Heranwachsenden etwa ab dem Alter das Hirn erhitzen, in dem sich der Junge im Laken zu Anfang und zu Ende des Films befindet?
Er mag Elisabeths Sohn sein, er ist aber auch eine der beiden ansonsten kaum körperlich präsenten Verkörperungen des Männlichen im Film, und dabei eine erst noch erwachende, vielleicht noch unwissende, aber schon ahnende. Die andere ist Elisabeths plötzlich auftauchender (oder schon immer dagewesener?) Mann, dessen Gebrauch des Wortes Zärtlichkeit nur eine höfliche Chiffre für sein sexuelles Begehren und, wie ihm bescheinigt wird, sexuelle Potenz ist. Es ist auch seine Stimme, die als Off-Erzähler unerwartet (und das einzige Mal im Film) den Schauplatzwechsel vom Krankenhaus zum Strandhaus kommentiert - und wiederum auf den Autoren als Instanz hinweist, vielleicht sogar den phantastischen oder unwirklichen Aspekt des gesamten Strandhausaufenthaltes deutlich markiert.
Der Knabe und die zwei Frauen - dieses Motiv war im „Schweigen" schon einmal ausgiebig verhandelt worden und spinnt einen thematischen Faden fort, der das Begegnen von heranwachsender Maskulinität und erwachsener, sexuell herausfordernder Weiblichkeit schon in „Wie in einem Spiegel" berührt hatte („Persona" kann in mancher Hinsicht als Addendum zur Kammerspiel-Trilogie gesehen werden). Jedoch liegt im „Schweigen" eine zuweilen etwas hölzern und schulmeisterlich wirkende Dichotomisierung in der Charakterisierung des ungleichen Schwesternpaares vor: Die offene, ja offensive Sensualität von Anna gegen die verkniffene Selbst- und orale Ersatzbefriedigung durch Zigarette und Flasche bei Ester - Trieb gegen Intellekt. Eine Versöhnung wird hier nicht erreicht, die beständige Abstoßung und Anziehung (wobei letztere in konventionellen Beziehungskategorien den Anstrich des Inzestuösen bekommen muß) führt letztendlich zur völligen Trennung der Geschwister. Der kindliche, unschuldige, unverdorbene Johan steht zwischen ihnen, nicht verstehend, nicht urteilend und jeder der Schwestern auf eine gewisse Art zugetan. Das Männliche begegnet ebenfalls in zwei gegensätzlichen Ausprägungen: Entweder asexuell (als Kind oder alter Mann) oder ganz auf das Triebhafte reduziert (der Kellner, der nicht spricht und nur begattet).
Obwohl „Licht im Winter" zunächst thematisch ganz anders gelagert zu sein scheint, taucht das Motiv der Trennung zwischen Trieb und Intellekt auch hier auf. Der Pfarrer Tomas ist nicht nur durchweg in seine nüchterne Berufskleidung gehüllt, auch weist er explizit auf die ihn anekelnde Körperlichkeit und physischen Defizite von Märta hin (die eine Felljacke trägt und somit ihre körperliche Realität unterstreicht). Seine Ohnmacht und Unfähigkeit gegenüber dem Glauben lassen nicht zuletzt eine sexuelle Impotenz vermuten, ein Verdacht, der durch Märtas mütterliches Trösten, obschon es seine Erkältung betrifft, erhärtet wird, denn Tomas' Krankheit dürfte nicht zuletzt metaphorisch für eine - wenn auch vorübergehende - Ohnmacht in den körperlichen, also auch sexuellen Belangen des Lebens stehen. Seine einzige Zuflucht ist folgerichtig die streng strukturierte, ritualisierte, rein geistige Zeremonie des protestantischen Gottesdienstes.
„Persona" greift die Konstellation vom nur marginal sichtbaren, aber latent präsenten Maskulinum im Spannungsfeld zweier Frauenentwürfe auf, geht aber zugleich einen oder mehrere Schritte weiter (und nicht nur, indem etwa die phallische Qualität eines Panzers durch die konkrete Abbildung eines Phallus, und zwar leitmotivisch zu Beginn des Films, ersetzt wird). Das betrifft insbesondere die vielschichtigen, sich nach und nach entfaltenden und verändernden Beziehungen zwischen Alma und Elisabeth, die von Pfleger-Patient über Erzähler-Zuhörer bis zu Vampir-Opfer reichen. Dabei widersetzten sich diese Beziehungen aber einer simplen Kategorisierung und laufen den Erwartungen zuwider: Die vermeintlich einfühlsame Schauspielerin erweist sich als der Empathie unfähig oder unwillens, die vermeintlich „anständige" Alma beichtet sexuelle Ausschweifungen, die Krankenschwester ist hilfsbedürftiger als ihre Patientin.
So nahe sich die beiden seelisch und körperlich in der Abgeschlossenheit des Hauses und der Nacht jedoch kommen, es gibt doch keine recht eigentlich erotische Spannung zwischen ihnen, wie diverse Plakate, DVD-Cover oder oberflächliche Beschreibungen suggerieren. Eher mag man noch der Schwesterbeziehung in „Das Schweigen" eine erotische, unterschwellig homosexuelle Komponente zugestehen, während in der Annäherung zwischen Alma und Elisabeth etwas Symbiotisches, einander Ergänzendes vorherrscht, das dabei nicht frei von Asymmetrien, Konflikten, existentiellen Spannungen und Entladungen ist.
Und spätestens hier, als sich der Konflikt zwischen den Frauen zuspitzt, der Nebel bis in die nächtlichen Zimmer hineindringt und nicht mehr klar ist, was Fiebertraum, was Wirklichkeit ist - hier also erweist sich die Konstruktion als eine solche, hier bricht das Filmemachen unbarmherzig in die Geschichte, wird die Narration sich selbst ausgetrieben und als Verfaßt-Sein, als Poiesis entlarvt. Wir sehen Almas anklagende Rede aus zwei Perspektiven, werden auf ihre kathartische Funktion unsanft mit der Nase gestoßen und somit ob unserer Erwartungen an gewohnte „Beziehungsfilme" verspottet. Wir wünschen uns die gegenseitige Ergänzung der Charaktere, auf daß beide daran gesunden? Die Montage der beiden Gesichtshälften ergibt nicht eine wunderbare Kombination, sondern eine monströse und angsteinflößende Abscheulichkeit. Hat der gemeinsame Aufenthalt im Strandhaus je stattgefunden? Als Alma allein die Kissen hineinräumt, rückt zum ersten Mal ein übergroßer Madonnenkopf ins Blickfeld, der vorher nicht dagewesen zu sein schien und der eine Ähnlichkeit mit Elisabeth hat. Was ist nun wirklich geschehen? Natürlich gibt es, wie auch in Lynchs „Mulholland Drive", den Notausgang für jene, die eines erzählerischen Abschlusses dringend bedürfen: Bitteschön, der Knabe verschmolz in einem gewaltigen ödipalen Akt seine kalte und an der Gesellschaft krankende Mutter mit der gutherzigen Krankenschwester. Aber soll das schon alles sein?
Es sind der Blick, Bergmans Blick, und sein Begehren bzw. das männliche Begehren an sich, die die beiden weiblichen Charaktere in ihrem Wesen und in ihren Handlungen bis in ihre mißlungene Verschmelzung hinein erschaffen, bestimmen, dirigieren, imaginieren. Die Verklammerung, die sich am Ende schließt - der Junge im Laken streicht über das kombinierte Gesicht, der Film im Projektor stoppt - wirft uns wieder auf den Erzähler (im alter ego) und sein Medium zurück. Das über uns hinwegschwenkende Kamerateam hat uns längst bestätigt: Wir sahen einen Film. Über die Vorstellung eines Mannes von sich selbst, von redenden und schweigenden schönen Frauen, und schließlich über die Arretierung dieser flüchtigen Vorstellungen in einer audiovisuellen Apparatur.