Istanbul ist eine malerische, vom Massentourismus gern frequentierte Stadt. Die heute rund siebzehn Millionen Einwohner zählende Metropole am Bosporus hat auch viel zu bieten. Vor allem viel Geschichte. Denn welcher halbwegs gebildete Mitteleuropäer weiß nicht, dass sich hinter dem Namen Istanbul das mittelalterliche Konstantinopel verbirgt, das das im Sturm der Völkerwanderung untergegangene Weströmische Reich um runde tausend Jahre überlebte und als Oströmisches Reich (oder später Byzanz) maßgeblich die Geschicke des Orients unzählige Generationen lang lenkte und beeinflusste? Und zwar bis Anno Domini 1453 und damit fast bis zum Beginn der Frühen Neuzeit. Denn in diesem für das abendländische Europa schicksalhaften Jahr gelang es dem Islam nach jahrhundertelangem, erbittertem Ringen endlich, den „Goldenen Apfel" der Christenheit zu überrennen und endgültig die letzten ausgeschlackten Reste des einst mächtigen Byzanz dem Abendland zu entreißen. Damit endete die europäische Geschichte einer Stadt, deren Ursprünge bis zu den archaischen Griechen zurückreichten, der der erste christliche Kaiser seinen Namen verlieh und die wie keine andere das Vermächtnis der Antike am Leben zu erhalten trachtete. Ihre Zukunft gehörte fortan den Osmanen, den Türken, die sie als neue Hauptstadt und Ausgangspunkt für Dutzende Eroberungsfeldzüge vor allem im Balkanraum nutzen würden und deren Expansionsdrang zweimal muslimische Heeressäulen bis vor die Tore Wiens führen sollte. Doch im Gegensatz zum altehrwürdigen Byzanz sollte die Schaltzentrale der Habsburger Donaumonarchie dank vereinter Kräfte der westlichen Welt nicht genommen werden können. Wer weiß, wie sonst das Gesicht Europas heute aussähe?
Wie dem auch sei. Im Jahr 2012 macht sich also nun ein türkischer Regisseur daran, das Ende Konstantinopels und den Anfang Istanbuls zu verfilmen. Eine Zeitenwende, die durchaus Stoff für Geschichten böte. Doch wie legitimiert man heutzutage einen Film über schiere Aggression und reine Eroberungslust? Indem man sie legitimiert. Und so sucht man bei Faruk Aksoy schlechterdings vergebens nach differenzierter Darstellung und authentischem Porträt. Den Geschädigten selbst wird es relativ gleich sein, denn die Byzantiner gibt es ja seit jenen Tagen nicht mehr. Aber so mancher geschichtsinteressierte, aufgeklärte Mensch sieht sich einmal mehr einer zumindest potentiell überaus vielversprechenden Chance beraubt, ein weltgeschichtliches Ereignis inhaltlich nahrhaft serviert zu bekommen.
Prolog. Es wird hell im Bild und im Jahr 627 nach Christus. Wir sehen die Apostel Mohammeds in einem fernöstlich dekorierten Raum, denen der Prophet in Form einer subjektiven Kamera weissagt, dass einst ein großer Moslem Konstantinopel den Christen nehmen würde und sie diesbezüglich zufrieden und zuversichtlich sein mögen. Die wohlmeinende Zustimmung des nicht zu bebildernden Mohammeds erfährt der Zuschauer in dieser Szene also etwa dadurch, dass die Kamera von oben nach unten und nicht von links nach rechts wackelt. Jedenfalls schlägt man so den Bogen zur bevorstehenden Auseinandersetzung des den islamischen Gläubigen versprochenen Heiligen Kriegers mit den nach achthundertjähriger Verspätung offenbar immer noch nicht die Zeichen der Zeit erkennenden orthodoxen Christen Ostroms.
„Schon im Jahr, in dem er geboren wurde, geschahen viele wundersame Dinge. Viele Zwillingsfohlen wurden geboren. Der Boden war so fruchtbar, dass es vier Ernten gab. Bäume beugten sich voller Früchte bis zum Boden. Im selben Jahr wurde ein Komet über Konstantinopel gesehen und als Zeichen gedeutet, dass dessen unüberwindliche Stadtmauern einstürzen würden."
Die Grimmsche Geschichtsstunde wird visuell untermalt mit auf den ersten Blick nett arrangierten Computeranimationen eines allerdings völlig unzeitgenössischen Konstantinopels. Während also das antike Hippodrom noch in voller Pracht steht, Kaiser Konstantin XI. den - in Wirklichkeit damals schon längst verfallenen - Palast der römischen Imperatoren direkt daneben bewohnt und überhaupt der Stadt Faruk Aksoys so gar nicht die tausendeinhundert Jahre seit Konstantin mit ihren Wirren und Zerstörungen anzusehen sind, braut sich da etwas zusammen im nur fünfundsechzig Kilometer entfernten Edirne. Ein von höchster Stelle prophezeiter Eroberer wurde geboren. Und der wird kurzen Prozess machen mit der sittenlosen Dekadenz im - wundersam intakten - Stadtpalast des oströmischen Kaisers mit all seinen halbbekleideten Mädchen und seinem überheblichen Spott.
Mehmet II., der Eroberer Konstantinopels, wird, wie erwartet, vom türkischen Monumentalfilm als Erlöser gefeiert, für den es nichts Schöneres gibt, als nach gewonnener Schlacht die Babys der überwundenen Feinde zu knuddeln und ihnen in süßen Phrasen eine malerische Zukunft in gemeinsam genossener (Religions-)Freiheit zu zeichnen. Adressaten dieser auf Samt gebetteten, identitätsstiftenden Worte sind freilich nicht die Kleinkinder, denn die verstehen beim türkischen Bramarbasieren Mehmets vermutlich nur Chinesisch, sondern das heimische Kinopublikum, dem man vorgaukelt, der brutale Städteüberwinder von einst sei ein wohlmeinender Befreier gewesen. Dass der historische Mehmet zwar ein hochgebildeter, vielseitig interessierter Mensch war, der auch zu milder Großzügigkeit und Achtung vor dem Feind fähig war, ist verbürgt. Dass er allerdings wie viele Sultane vor und nach ihm einen Großteil seiner Geschwister ausradieren ließ, um sich den Thron zu sichern, dass er Gefangene pfählen, in Ungnade gefallene Generäle enthaupten ließ und obendrein bisexuell war, wäre der nicht ganz uninteressante Rest seines zu Ende gezeichneten Charakterprofils. Es bedarf vermutlich keines großen Rateglücks, um richtig darauf zu tippen, dass dieser zweite Teil von Mehmet Zwei im Film überhaupt keine Erwähnung findet. Das filmische Porträt geht sogar so weit, ihn als treuen, monogamen Ehemann ins Werk zu setzen. Der selbst heute noch bekannte Harem der türkischen Sultane wird hemdsärmelig von Meister Aksoy kurzerhand in den Palast Konstantins verfrachtet, der hier offenbar überhaupt als einziger an polygamen Beziehungen interessiert zu sein scheint. Aber mit dessen unchristlichem Treiben räumt der Moslem Mehmet ja, wie gesagt, bald gehörig auf.
Wir folgen also den Vorbereitungen der Osmanen auf die Belagerung und deren beherzte Durchführung, welche von ständigen Intrigen und Ränkespielen seitens der verschlagenen Byzantiner sozusagen gespeist und garniert werden. „Erobere ich Konstantinopel nicht, wird es mich erobern", erträumt sich ein moderner Mehmet II. recht praktisch im Film. Dass das Byzanz des Jahres 1453 längst kein Reich, geschweige denn ein Weltreich mehr war, sondern nur noch ein schwacher Schatten seiner einstmaligen Bedeutung und damit überhaupt keine Gefahr für seine eigene Großmacht, lässt der 2012er Sultan diplomatisch geschickt vor sich selbst unter den Tisch fallen. Ferner folgen wir der historischen Figur Hassan, von der in Wirklichkeit nicht viel bekannt ist, und seinem erfundenen Liebchen, das als zukünftige Muslimin an seiner Seite tapfer unter den vielen bärtigen Männern an vorderster Front seine Frau steht. Genauso, wie das damals eben üblich war. Hassans ebenfalls historischer Gegenspieler ist der Genuese Giustiniani, der das italienische Hilfskontingent für den byzantinischen Kaiser kommandiert. Seine Figur erfährt als eine der wenigen innerhalb der berannten Mauern eine differenzierte Darstellung, was wohl den mittelalterlichen Quellen geschuldet ist. Die belegen nämlich sowohl von griechischer als auch von türkischer Seite her einen überaus tapferen, außergewöhnlich fähigen Truppenführer, vor dem selbst Mehmet II. den Turban zog. Natürlich wurde er in Wahrheit nicht von Hassan im dilettantisch choreographierten Zweikampf geschlagen, sondern starb an seinen während bei der Verteidigung der Stadtmauer erlittenen Verletzungen relativ unspektakulär im Hospital. Doch hier kann man Faruk Aksoy keinen Strick drehen.
Strapazierend hingegen misslang Aksoy die erwartungsgemäße Darstellung der Byzantiner sowie der restlichen Europäer. Während Sklavenhaltung im Film bei allen Beteiligten außer den Osmanen üblich ist, vergreifen sich auch nur die christlichen Kämpfer an entwaffneten Gefangenen oder in völlig anachronistischem Gewandt aus dem 12. Jahrhundert an der Zivilbevölkerung. Ein Grund übrigens, warum Hassans Liebchen so böse auf Konstantin XI. und dessen Stadt ist, denn ihre leiblichen Eltern wurden von, ihrer Kleidung nach zu urteilen, dreihundert Jahre alten Kreuzrittern umgebracht. Ihr Adoptivvater ist praktischerweise nicht Kanonenfutter, sondern -gießer und zumindest dem Namen nach eine historische Figur, die hier allerdings samt Töchterlein von den rüpelhaften Byzantinern bedrängt und zum Kanonenbau gezwungen wird, während Hassan und sein Jihad-Kommando die beiden in letzter Sekunde befreien und sie viel sanfter mit viel mehr Liebe entführen. Der echte Baumeister wurde übrigens schlicht von Mehmet besser bezahlt. Ein gängiges Argument im Zeitalter der Söldnerheere. Der „Krieg Gottes" und sein gerechtes Wesen finden übrigens ohne Unterlass Erwähnung, weshalb es nicht ganz schlüssig wirkt, warum man überhaupt noch ebenso oft und zeitgleich krampfhaft Gründe konstruiert, die Stadt angreifen zu dürfen. Aber wie sagt man: Doppelt hält besser.
Wenn zum wiederholten Male und am laufenden Meter historische Daten und Zusammenhänge aus denselben gerissen und mit der Inbrunst eines Zweijährigen miteinander neu zusammengestöpselt werden, dann fühlt sich der wohlmeinende Cineast unweigerlich dazu gezwungen, die Qualitäten dieses Karnevalspektakels an anderer Stelle zu suchen. Nur sucht man eben auch da relativ vergeblich. Seine sich pathetisch gebärdenden Figuren erinnern frappierend an bessere Laiendarsteller, seine Dramaturgie an die Reparatur eines Porzellansparschweins. Selbst die Computereffekte, sozusagen das A und O eines potentiell bildgewaltigen Historienepos, sehen aus wie bessere Windows-95 Heldentaten. Auch die Inszenierung rettet hier Konstantinopel also nicht vor dem Fall. Plump, hölzern und ideenlos stapfen Faruk Aksoys Janitscharen um den Bosporus. Als zu guter Letzt der Mehmet des Jahres 2012 nach seinem Einzug in die eroberte Stadt die Hagia Sophia betritt, findet er nicht, wie damals im Jahre 1453, von seinen Truppen angerichtetes Leid, sondern sogleich Hoffnung schöpfende Menschen vor. Der damalige Eroberer hingegen sah tausendfache Vergewaltigung, Mord, Brandschatzung, Versklavung und Schleifung unermesslicher Kulturgüter. „Die hübschesten Mädchen und Knaben in der Kirche wurden buchstäblich von den sich um ihre Beute balgenden Eindringlingen in Fetzen gerissen." Es erübrigt sich wohl darüber nachzugrübeln, warum das wahre Ende des spätantiken Weltreichs in diesem „welthistorischen Blockbuster" (Der Standard) unerzählt bleibt.
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<![endif]-->Lesetipp:
Crowley, Roger, The Holy War for Constantinople and the Clash of Islam and the West, Hyperion, New York 2005 (Crowley bietet eine viel gelobte, wissenschaftliche und damit unparteiische Schilderung der Belagerung Konstantinopels, ihrer Konfliktparteien und Protagonisten.)