Review

Michael Haneke macht niemals leicht verdauliche Filme und auch „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ ist kein Mainstream-Film, der versucht die im Film aufgeworfenen Fragen zu beantworten. Der Film besteht aus 71 Kurzeindrücken. Getrennt werden sie durch Schwarzbilder. Es sind Einblicke in das Leben unterschiedlicher Figuren, deren Leben scheinbar nichts gemein hat. Das einzige was sie am Ende des Werks zusammenbringt, ist ein Massaker in einer Bank. Ein 19jähriger Student stürmt in die Bank und schießt wahllos in die wartende Menge, verlässt die Bank, ohne Geld oder ähnliches zu erbeuten und begeht in seinem Auto Selbstmord. Welche Motive, welche Probleme hinter seiner Tat stecken, überlässt Haneke der Phantasie des Zuschauers. Vielleicht sind es Alltagssituationen, die den Studenten zu dieser Tat brachten: Der Tankwart, der seine EC-Karte nicht akzeptierte, der Geldautomat, der außer Betrieb war oder der Mann in der Bank, der ihn nicht vorlassen wollte - oder liegt die Motivation weiter zurück, war es der Stress beim Tischtennistraining – eine abschließende, konsumierbare Antwort wird dem Zuschauer nicht geboten. Man erhält Fragmente aus dem Leben des Studenten, die dem Zuschauer eine Ahnung der Figur geben. Aber eine Figur ist nicht einfach „so“, sie ist eben auch anders. Der Film erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Und gerade dadurch erreicht er einen viel tieferen Anspruch. Viel näher an der Realität zu sein. Gerade die Sehgewohnheit, die durch Mainstreamfilme entsteht, ist es, eine Figur zu kennen, die Beantwortung der Frage des „Warum?“ zu können. Aber ist die erlebte Realität, nicht vielmehr in Fragmente gegliedert?

Auch die anderen Geschichten in „71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ sind fragmentarisch. Ein Flüchtlingsjunge treibt sich durch Wien, in der Hoffnung ein besseres Leben in Österreich zu finden. Doch er erfährt erstmal, dass das scheinbar Schöne des Landes aus falschen Bildern besteht. Seine Geschichte verstrickt sich mit der Geschichte eines Ehepaars, das vergeblich um die Gunst eines Waisenkinds buhlt. Als der Flüchtlingsjunge aufgibt und sich der Polizei stellt, greifen die Medien seinen Fall auf. Das Ehepaar sieht den Beitrag und entscheidet sich den Jungen aufzunehmen.Die mediale Berichterstattung, genauer gesagt, Nachrichten über den Jugoslawienkrieg, Michael Jackson und andere internationale Konfliktherde der Zeit werden immer wieder zwischen die einzelnen Fragmente geschnitten. Am Ende findet man die Tragödie der Bank zwischen zwei Berichten, die kurz zuvor schon einmal gesendet wurden. Eine Tragödie die sich in den 71 Fragmenten (und neunzig Minuten) zuspitzt, erhält einen ca. 30 Sekunden langen Beitrag zwischen anderen Nachrichten!
„71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls“ wird durch eine gesellschaftliche Kälte geprägt, die für Hanekes Filme typisch ist. Die „sicherste“ Einheit der Gesellschaft, die Familie, wird hier entmystifiziert. Während ein Ehepaar sich um die Gesundheit ihres Babys sorgt, entsteht durch die gemeinsame Sorge doch keine Nähe zwischen Mann und Frau. Man erfährt nicht, wie es zu dieser Familiensituation kam, aber man erlebt einen ihrer Höhepunkte. Während dem schweigsamen, gemeinsamen (und doch einsamen) Essen, sagt der Mann zu seiner Frau: „Ich liebe Dich“ und stößt damit auf vollkommenes Unverständnis seitens seiner Frau. Eine der stärksten Szenen des Films.
Haneke ist ein Meister im Aufzeigen von Fehlkommunikation, bzw. von Nichtkommunikation. Selbst das, was in dem Film gesprochen wird, muss nicht zielgerichtet sein und schon gar nicht von der anderen Seite angenommen oder verstanden werden. Seine langen Einstellungen (ca. 8 Minuten ungeschnittenes Telefongespräch zwischen Vater und erwachsener Tochter) unterstreichen die Kälte des Films und seine Kommunikationsproblematik. Sie zwingen den Zuschauer genauer hinzusehen. Nicht nur unterhalten zu werden, sondern zu reflektieren – zu assoziieren.
Und dies schafft der Film auch, er regt zu Überlegungen an, schafft Assoziationen und lässt Raum für eigene Interpretationen – eine Leistung, die viele Filme nicht mal wagen. Der Zuschauer bekommt Einblicke, keine Antworten. Selbst der Titel des Films „…Chronologie des Zufalls“ wirft die Frage nach Zufall oder Schicksal auf. Und vielleicht bin ich ja, in dem Moment, in dem ich den Film sehe, das 72ste Fragment …

9 von 10 Punkten

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