"Zufällig im reinen Sinne der Kategorie ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist." - Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 487
Ich interessiere mich seit geraumer Zeit für polnisches Autorenkino. Nachdem ich bereits Filme von Andrzej Zulawski und Andrzej Wajda gesehen hatte, war "Der Zufall möglicherweise" mein erster Film des Regisseurs Krzysztof Kieslowski. Den Schauspieler Boguslaw Linda kannte ich ja bereits aus "Szamanka".
Lange bevor Tom Tykwer sich mit seinem Film "Lola rennt" mit den Möglichkeiten und Folgeerscheinungen des Zufalls beschäftigte, überzeugte der polnische Film "Der Zufall möglicherweise" durch seine Herangehensweise an diese komplexe Thematik. Hauptprotagonist ist der Medizinstudent Witek Dlugosz, der jeweils drei unterschiedliche Szenarien durchlebt. Alles hängt davon ab, ob er einen Zug nach Warschau erreicht. In der ersten Episode rennt Witek dem Zug hinterher und kann sich in letzter Sekunde in den hinteren Wagoneingang hissen. In der Folgezeit lernt er hochrangige polnische Kommunisten kennen und entschließt sich Mitglied der "Partei" zu werden. Als er einige Jahre später mit diversen Vertretern nach Frankreich mit dem Flugzeug abreisen will, verhindert ein Streik den Abflug. In der zweiten Variante erreicht Vittekt den Zug nicht rechtzeitig und stößt mit einem Schaffner zusammen. Wegen diesem Vorkommnis wird er von einem Gericht zu allgemeinnütziger Arbeit verklagt und gerät dadurch an Mitglieder einer kirchlichen Untergrundorganisation, die von offizieller Seite verfolgt werden. Auch am Ende dieser Episode ist eine Reise nach Paris möglich, die der Protagonist jedoch nicht in Anspruch nimmt. Die dritte Variante hat die vergleichsweise kürzeste Laufzeit. In diesem Rahmen verpasst Witek den Zug und entschließt sich sein Medizinstudium zu beenden. Außerdem heiratet er eine Kommilitonin und zeugt mir ihr zwei Kinder. Am Ende dieser Episode steht abermals die Möglichkeit einer Reise nach Paris, diesesmal aus beruflichen Gründen. Der Protagonist nimmt das Angebot an... .
"Der Zufall möglicherweise" ist ein Diskurs über das Leben und über den schmalen Grad zwischen Freiheit und Determinismus. Dabei zieht ein eher unscheinbares Ereignis im Leben des Protagonisten die unterschiedlichsten Entwicklungsmöglichkeiten nach sich.
Bei sehr wenigen Filmen, die sich mit der Thematik des Zufalls auseinandersetzen, ist es möglich genaustens festzulegen, ob der Regisseur eher zugunsten der Freiheit oder der Prädetermination tendiert. Anlässlich der Nichtigkeit des Ereignisses und den daraus entstehenden, diametral entgegengesetzten Konsequenzen, bin ich dazu geneigt Kieslowski für ein Verfechter des radikalen Zufalls und der Freiheit zu halten. Darüber sollte sich aber jeder seine eigene Meinung bilden. Eine ähnliche Stellung zu dem Phänomen Zufall nimmt auch Michael Haneke in seinem Film "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" ein.
Ferner enthält Kieslowskis Werk auch eine implizierte Reflexion über die Chaostheorie. Diese Theorie entstand in der Meteorologie und setzte sich den Beweis zum Ziel, dass die kleinsten Ereignisse in einem System die unterschiedlichsten Konsequenzen hervorrufen könnten. Demnach gäbe es die Möglichkeit, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings einen Tornado auslöse (sog. "Butterfly Effect").
Chaos und Zufall besitzen auch Auswirkungen auf ein System, das wir unter dem Begriff "Gesellschaft" wahrnehmen. Die kleinsten Erschütterungen in diesem Rahmen dringen zur Mikroebene vor und treffen letztendlich die einzelnen Individuen. Jeder Zuschauer wird nach der Sichtung des Films diese Tendenzen bestätigen.
Ich schätze Reflektionen über Zufall, Schicksal, Freiheit und Determinismus sehr und betrachte das Medium Film (und seit neuestem auch Videospiele) als Chance sich mit diesen essentiellen Phänomenen auseinanderzusetzen. Gerade in unserer Zeit, die sich durch Oberflächlichkeit, Selbstüberschätzung und der immer stärkerer Technisierung charakerisiert, ist es wichtig das Individuum nicht zu vergessen. Filme wie "Der Zufall möglicherweise" können bei dieser Zielsetzung weiterhelfen. Leider wird dieser tolle Film die breite Masse niemals erreichen, da es sich nicht um einen einfachen Unterhaltungsfilm handelt.
Auch die Kommunisten konnten mit diesen Gedankenkonstrukten nicht viel anfangen. Der Film wurde 1981 sofort verboten.
9/10