Wenn Regisseur Ang Lee den Tiger aus dem Tank holt, geschieht dies primär auf visueller Ebene und obgleich der gebürtige Taiwanese die moderne 3D-Technik eher ablehnt, liegt genau darin seine Stärke, um zwischen verträumten surrealistischen Bildern und Abenteuerfeeling auf hoher See zu überzeugen.
Pi (Suraj Sharma), eigentlich Piscine Molitor Patel ist ein Inder, der mittlerweile in Kanada lebt. Einem Autor erzählt er die Geschichte, wie er als Siebzehnjähriger 227 Tage in einem Rettungsboot mit einem bengalischen Tiger im Pazifik überleben konnte…
Relativ zu Beginn der Erzählung dürften sich Puristen darin bestätigt fühlen, dass man Tiere eben doch nicht durch aufwendige Computeranimationen ersetzen kann, denn die Zoobewohner im indischen Pondicherry bewegen sich wie in einer beispielhaften Vorzeigegalerie mit Hochglanzhintergrund. Dieser Eindruck soll sich jedoch spätestens ändern, als das Zwei-Personen Stück einsetzt und der Tiger zum Leben erweckt wird. Lebensnahe Bewegungen, tolle Mimik, detailgetreue Zeichnung des Fells und obendrein ein authentischer Sound, - da haben die Tricktechniker volle Arbeit geleistet.
Lee mit der Darbietung seiner eher stillen Geschichte jedoch auch, denn durch die Rahmenhandlung, welche die zahlreichen Flashbacks zunächst nur vage zusammenhält, wird die Hauptfigur und sein Heranwachsen in der Familie recht lebendig und zuweilen auch humorvoll vermittelt. Die Nähe zu Pi ist rasch gegeben, auf hoher See ist sie hingegen unausweichlich, denn als das Schiff bei der Überfahrt kentert, befindet sich Pi zunächst mit einem Zebra, einer Hyäne und einem Orang-Utan an Bord, erst später taucht der Tiger auf, der Aufgrund eines bürokratischen Missverständnisses Richard Parker genannt wird.
Bei der Frage um Hoffnung und Überlebenswillen fühlt man sich zwangsläufig an Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ erinnert, Pi sinniert nicht nur während seiner Kindheit über Gott und Religionen, besonders der Glaube spielt im Verlauf eine bedeutende Rolle. Jedoch wird diese Thematik nie störend aufgedrängt, sondern untermauert mit dem pointierten Ende, dass irgendwie doch jeder selbst seines Glückes Schmied ist.
Auch wenn die Prämisse im Vorfeld ein wenig eintönig klingt, - Lee bietet eine Reihe kreativer Einfälle und emotionaler Momente, um die Erzählung dauerhaft fesselnd zu gestalten. Ob fliegende Fische, ein auftauchender Wal, eine fleischfressende Insel oder Tausende von Erdmännchen, einige Erinnerungsfragmente im Einklang mit Unterwasseraufnahmen oder einfach nur die beiderseitige Panik beim aufkommenden Sturm: Die bildgewaltige Farbenpracht, die verträumten Szenerien zwischen Hoffnung, Aufgabe und dem Blick auf Vishnu verschmelzen zu einer manchmal atemberaubenden Einheit, die größtenteils ohne Worte auskommt.
Somit trifft Ang Lee mit seinem Abenteuer-Drama mal wieder voll ins Schwarze: Mitreißende Optik, ein großartiger Hauptdarsteller, ein rundum gelungener Score und die überwiegend detailreichen Computereffekte gestalten „Life of Pi“ zu einem berauschenden Kinoerlebnis zum Wohlfühlen, ein wenig auch zum Nachdenken.
Vor allem jedoch für Cineasten, die das zeitlose Abenteuer auf der großen Leinwand schätzen und mal wieder ein opulentes Werk mit Erinnerungswert genießen wollen.
8,5 von 10