Medizinstudentin Mary Mason (Katharine Isabelle) ist jung, hübsch, hochintelligent und ungemein begabt. Einer erfolgreichen Karriere als Chirurgin scheint nichts im Wege zu stehen, doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihr, bringt sie brutal zu Fall, und das war's dann mit dem American Dream. Ausgangspunkt der unschönen Ereignisse ist ihre notorische Geldknappheit, und so bewirbt sie sich beim Kleinganoven Billy Barker (Antonio Cupo) als Masseuse in seinem Strip-Club. Just beim "Vorstellungsgespräch" läuft jedoch ein Verhör im Keller aus dem Ruder, und ihr chirurgisches Geschick ist gefragt. Für 5.000 US$ macht sie sich an die Arbeit. Wenig später meldet sich die mysteriöse Tänzerin Beatress Johnson (Tristan Risk) bei ihr, mit einem weiteren Auftrag, zu dem sie nicht nein sagen kann. Mary führt die gewünschte, höchst bizarre Körpermodifikation bei Ruby Realgirl (Paula Lindberg) erfolgreich durch und kehrt mit einer stattlichen Dollarsumme in ihr Appartement zurück. Der plötzliche Geldsegen bleibt nicht unbemerkt, wird von ihrem Professor Dr. Grant (David Lovgren) allerdings völlig falsch gedeutet. Der nimmt nämlich an, daß sich Mary prostituiert, um ihr Studium zu finanzieren und wählt sie prompt als Opfer für eine seiner flotten Partys aus. Mary wird betäubt, vergewaltigt, und dabei auch noch gefilmt. Äußerlich ruhig und beherrscht, aber innerlich gebrochen und voller Wut, läßt sie ihr Studium sausen und arbeitet fortan in der "Body Modification"-Szene, wo sie sich bald einen Namen macht. Und die offene Rechnung mit ihrem ehemaligen Professor gedenkt sie ebenfalls zu begleichen. Mit Zins und Zinseszins.
Ich freue mich ja über jeden Film, der die ausgetretenen Slasher/Backwoods/Torture Porn-Pfade verläßt und sich mutig in ein etwas anderes, interessanteres, gewagteres Terrain begibt. Wenn im Mittelpunkt dann auch noch eine ambivalente Frauenfigur steht, die man meist liebt, manchmal haßt, aber immer versteht, dann bin ich dafür richtig dankbar. Diesmal gilt mein aufrichtiger Dank den Zwillingsschwestern Jen und Sylvia Soska, die mit American Mary (ihr zweiter Spielfilm nach der Grindhouse-Hommage Dead Hooker in a Trunk) einen verdammt starken, sehr emotionalen und oft unter die Haut gehenden Schocker vorgelegt haben, der Motive des Gangsterfilms, Medizinthrillers, Cronenberg'schen Body-Horrors und Rape-Revenge-Movies aufgreift und auf durchaus originelle Weise in den aufwühlenden Plot integriert. Die Protagonistin Mary, hervorragend zum Leben erweckt von der umwerfenden Katharine Isabelle, der Ginger aus der Ginger Snaps-Trilogie, ist eine tolle Figur, mit der man unweigerlich mitfiebert und mitleidet, auch wenn sie Dinge tut, die - obwohl nachvollziehbar - falsch sind. Es gibt da diesen grandiosen Moment in einer Frauentoilette, wo unsere von Wut überwältigte Antiheldin sich langsam und sorgfältig darauf vorbereitet, eine Stripperin zu bestrafen, die am falschen Schwanz genuckelt hat. Als es dann zur Konfrontation kommt und ans Eingemachte geht, fällt Marys Blick zufällig in den großen Spiegel des WCs und sie hält erschrocken inne. Erschrocken über das Monster, das ihr aus dem Spiegel entgegensieht. Das kalte, gewissenlose, sadistische Monster, in das sie sich manchmal verwandelt. Doch selbst in diesen wenigen Momenten bleibt sie immer sympathisch und erweckt mehr Mitleid als Abscheu.
Mit wem die hochtalentierten Soska-Schwestern sympathisieren, ist mehr als offensichtlich. Es sind - neben der aus der Bahn geworfenen Mary - die Außenseiter der Gesellschaft, die "Freaks", wie sie von den "Normalos" oft verächtlich genannt werden. Wie z. B. Beatress Johnson, die sich zu einem lebendigen Lookalike der Cartoonfigur Betty Boop gestalten hat lassen, Piepsstimme inklusive. Oder Ruby Realgirl, die sich gar Schritt für Schritt in eine lebende Barbie-Puppe verwandelt. Nur die letzte Operation steht ihr noch bevor: das Entfernen der Geschlechtsmerkmale. Und im denkwürdigen Kurzauftritt der identischen Soskas (als deutsche BodMod-Anhänger) kokettieren sie selbst ungeniert mit dieser illustren Szene und wünschen den Tausch eines Körperteils. Jeder dieser Charaktere wird mit viel Sympathie und Verständnis portraitiert, wohingegen die von der Allgemeinheit respektierten Halbgötter in Weiß allesamt zynische Arschlöcher sind, moralisch verkommen und arrogant bis zum Abwinken. Als ich Beatress und Ruby so sah, wurden bei mir unvermittelt Erinnerungen an Georges Franjus wunderbaren Klassiker Les yeux sans visage (Augen ohne Gesicht, 1960) geweckt, mit dem American Mary auch diese leicht traumhaft-surreale Atmosphäre teilt. Nur daß diesmal keine liebliche Maske das zerstörte Gesicht verdeckt, sondern die liebliche Maske das Gesicht ist. Die Make-Up-FX aus Todd Masters Spezialeffekteschmiede sind erstklassig und zu hundert Prozent "Old School"; kein CGI stört den Genuß dieser kleinen aber feinen Perle. Glücklicherweise widerstehen die beiden Regisseurinnen auch der Versuchung, in Sachen Gore über die Stränge zu schlagen und gehen überraschend subtil vor. Vieles wird nur angedeutet und setzt sich erst im Kopf des Zusehers so richtig zu einem verstörenden Ganzen zusammen. Umso mehr Eindruck hinterlassen deshalb auch die heftigeren Szenen, bei denen Brian Pearsons Kamera genüßlich draufhält.
Alles in allem ist American Mary ein herausragender Genrebeitrag mit viel (Herz-)Blut, toller Optik, starker Musik und etwas trockenem Humor, der noch einige Zeit im Bewußtsein des Betrachters nachhallt. Der neue Film der "Twisted Twins" ist bereits abgedreht. Man darf gespannt sein, ob sie ihrem auf einem fremden Drehbuch basierenden See No Evil-Sequel (mit Katharine Isabelle und Danielle Harris) ihren eigenen, bezaubernden Stempel aufdrücken können.