Mit seinem Sozial-Drama „Cal“ wandelt der britische Regisseur Christian Martin auf den Spuren eines Ken Loach oder einer Andrea Arnold und präsentiert ein raues, düsteres Werk, das mit großer Realitätsnähe, eindrücklichen Charakteren und einer Geschichte überzeugt, die weniger einer fest vorgegebenen Dramaturgie folgt, als die Handelnden bei ihren alltäglichen Kämpfen und Reibereien zu begleiten.
So bleibt die Kamera oft nah dran am Hauptdarsteller Wayne Virgo, der den gerade von einem längeren Auslandsaufenthalt zurückgekehrten Cal als ambitionierten, widerspenstigen und eigensinnigen Anfang-Zwanziger gibt, der in der alten Heimat keinen Fuß mehr auf den Boden bekommt. Die Termine beim Arbeitsamt sind demütigend und unergiebig, seine eigenen Bemühungen, irgendwo als Koch angestellt zu werden, laufen ins Leere, die Wohnsituation mit seiner schrägen Cousine ist alles andere als gemütlich, und die Krankenhausbesuche bei seiner sterbenskranken Mutter machen es auch nicht leichter.
Dieses Gesamtpaket an Schicksalsschlägen könnte in anderen Filmen zu viel sein, vor allem, wenn dann noch die komplizierte Bekanntschaft mit einem heruntergekommenen Drogenkurier und Stricher dazu kommt. Doch „Cal“ schafft es, diese Masse an schweren Rückschlägen so beiläufig einzubringen, dass die Gefahr eines Schicksalsschlag-Kitsches hier weiträumig vermieden wird. Das liegt hauptsächlich an der sozialrealistischen Inszenierung: Die Kamera fängt die graue Industriestadt von Beginn an in grau-braunen, aber immer wieder überraschend poetischen Bildern ein, zeigt eine Stadt, in der die Menschen stumm und unbeteiligt ihren Verrichtungen nachgehen, ohne sich umeinander zu kümmern, verstärkt diese gefühlskalte Atmosphäre noch durch gekonnt eingebaute Dokumentaraufnahmen von brutal eskalierenden Demonstrationen und Straßenschlachten und erzeugt so eine unglaublich authentische Atmosphäre, in der die Kälte und Düsterkeit der modernen Gesellschaft mit Händen zu greifen ist. Dass einem hier niemand hilft, aus der eigenen verfahrenen Situation herauszukommen, scheint völlig logisch; und dass das Finden eines Menschen, der zu einem steht, umso bedeutender ist, erschließt sich dem Zuschauenden umso intensiver – und das ganz ohne kitschige, verklärende Romantik oder ähnliche dramaturgische Ausrutscher.
Die Beziehung zwischen Cal und dem aus der Spur geratenen Jason entwickelt sich leise und langsam, lange Zeit bleiben sie nur flüchtige Bekannte, die sich bei ihren Wegen durch die dreckigeren Ecken der Stadt begleiten. Erst nach und nach entwickelt sich eine größere Nähe zwischen ihnen, und auch das so subtil und ineinanderfließend, dass die erste Sexszene weder überraschend noch spektakulär daherkommt (außer man sieht homosexuelle Praktiken immer noch als etwas Außergewöhnliches an, dann freilich hat „Cal“ einiges zu bieten). Eine so alltagsnahe, unprätentiöse Art, die sich entwickelnde Beziehung zweier Menschen zu beschreiben, findet man selbst im Autorenkino nur selten.
Umso ärgerlicher, dass der Film im Schlussteil dann urplötzlich mit saudummen Genre-Klischees daherkommt. Der Gangster, für den sie hin und wieder arbeiten, zwingt sie zu einem brutalen, erniedrigenden Job, als sie ihn daraufhin überfallen und die Stadt verlassen wollen, kommt es zu einer tragischen letzten Konfrontation – aber nicht, bevor Cal sich tränenreich von seiner sterbenden Mutter, die ihn zuvor noch wegen seiner Homosexualität verabscheut hat, verabschieden konnte. In diesen kurzen Szenen ganz am Ende kommt plötzlich eine geballte Ladung all des Kitsches, den der Film die ganze Zeit bis dahin so gekonnt umgangen hatte. Was das soll, erschließt sich nicht wirklich, den so stark ausgestalteten Charakteren hätte man jedenfalls ein bedeutend originelleres Ende gewünscht.
Dennoch ist „Cal“ ein kleiner, stiller Geheimtipp für alle Freunde des britischen Sozialrealismus. Düster und schwer, ohne die humoristischen Einschläge etwa eines Ken Loach, dabei aber nie erdrückend und selten klischeehaft, gibt der Film Einblicke in die Randlagen einer modernen Gesellschaft, in der Leistung und finanzieller Erfolg über Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft stehen. Dank der ruhigen, persönlichen Kamera, eines zurückhaltenden, schönen Scores und ebenso realistischer wie poetischer Bilder kann er den Großteil seiner doch recht kurzen Laufzeit voll und ganz überzeugen.