Quentin Tarantino ist kein Fließbandarbeiter. Der Mann nimmt sich Zeit für sein Schaffen. Dabei behält er sein gesamtes Oeuvre stets im Augenwinkel. Wie ein gut sortiertes Bücherregal mag sein Lebenswerk eines Tages mehr oder weniger vornehm an der Wand prangen. Als lebendes Filmlexikon bekannt, arbeitet sich der Amerikaner seit inzwischen einem Jahrzehnt überaus unkonventionell durch die Genres des mainstreamfernen 70er Jahre Kinos und zitiert dabei denkbar ungeniert aus den Meilensteinen früherer Tage. Von Asien über die staubigen Highways des US-amerikanischen Südens bis ins von den Deutschen besetzte Frankreich des letzten Weltkriegs reichen die von Tarantino beackerten Felder filmischer Nostalgie.
Derzeit geht es von Europa zurück in den Westen und damit wieder einmal rückwärts entlang der Zeitleiste bis in jene Tage, als die Schwarzen in Ketten vor den Weißen darniederlagen. In den Jahren 1861-1865 sollten diese Fesseln zwar in einem blutigen Bürgerkrieg zerrissen werden. Da würden die Herrensitze der Plantagenbesitzer des von der Baumwolle lebenden Südens durch Unionstruppen in Flammen aufgehen, doch waren es eben kaum die Schwarzen, die sich ihre Unabhängigkeit erkämpften und sich am Süden rächten. Es waren bibelfeste Weiße, denen das Schicksal der Geknechteten in den südlichen Gefilden ihres sogenannten „God's own Country" ein Dorn im Auge war und die so nach der Waffe griffen - unterstützt von der nicht wenig einflussreichen Lobby des hochindustrialisierten Nordens, der den agrarisch geprägten und auf Export angewiesenen Südstaaten seine Kontinentalsperre aufs Auge gedrückt hatte. Zwar gab es vor allem gegen Ende des Krieges einige Regimenter bestehend aus farbigen Rekruten in den Armeen der Nordstaaten, doch entschieden diese den Kriegsausgang nicht maßgeblich. Es lag schlicht nicht im Bereich der Möglichkeiten der schwarzen US-amerikanischen Bevölkerung, ohne weiße Unterstützung wirkungsvoll gegen das ihnen angetane Unrecht jener Tage vorzugehen. Und da dieser historische Sachverhalt gerade aus schwarzer Sicht ein trister ist, liegt es nahe, ihn nachträglich zu korrigieren. Und so schießt sich ein Colt bewehrter schwarzer Django im Jahre 1858 durch die unübersehbaren Reihen hellhäutiger Rassisten, um den Lauf der Dinge vorzeigbarer zu gestalten. Katharsis pur!
Der deutsche Kopfgeldjäger Dr. King Schultz (Christoph Waltz) befreit den Sklaven Django (Jamie Foxx) aus den Fängen weißer Sklavenhändler. Im Gegenzug soll der befreite Schwarze ihm dabei helfen, eine Bande von Schurken zu identifizieren, die steckbrieflich gesucht werden. Bald merkt Schultz jedoch, dass Django ein Händchen für Waffen hat und ob seiner wenig zimperlichen Natur auch ganz gut Leutchen töten kann. Also wird die Zusammenarbeit verlängert. Überdies macht sich das Duo auf, die dem Geknechteten einst von der Seite gerissene Ehefrau wiederzufinden. Die befindet sich inzwischen im Besitz des fiesen Plantagenbesitzers Candie (Leonardo DiCaprio) und muss auf dessen Gut Liebesdienste leisten. Aber nicht mehr lange.
Nicht der nicht selten wie ein Schaf dreinblickende Will Smith bekam letztendlich den Zuschlag für die Rolle des schwarzen Rächers, sondern Oscar-Preisträger Jamie Foxx. Der ist zwar - trotz gegenteiliger Berichte aus der Academy - ebenfalls keine mimische Koryphäe, doch reicht sein Talent allemal dazu, den stoisch musternden Django zu geben. Wie schon Franco Nero im Original des Jahres 1966 ist es nicht eben ein markanter Wesenszug der Hauptfigur, sehr kommunikativ zu sein. Ein lockeres Sprüchlein auf den Lippen, bevor man dem überflüssigen Gegenüber die Knetmasse aus der Rübe ballert und einige nette Plaudereien mit seinem deutschen Retter, mehr braucht nicht sein. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Apropos Retter. Und apropos mimische Eleganz. Erneut muss Christoph Waltz den Kopf einziehen, um nicht alle Filmpreise der Welt an den Kopf geworfen zu bekommen. Unser Hollywood-Export spielt ein zweites Mal jeden seiner Kollegen an die Wand. Mienenspiel wie Dialoge sind schlichtweg das Beste, was man sich im Kino an professionellem Entertainment wünschen kann. Waltz wird nicht selten als Überschauspieler bezeichnet, und so albern das klingen mag, es stimmt auch irgendwie. Der Deutsch-Österreicher spielt den redegewandten Kopfgeldjäger, der sich einen Ex-Sklaven zum Kompagnon heranzieht, mit einer Verve und bestechenden Noblesse, dass man sich die Augen reibt. Wie sagt mancher so schön salopp: „Ganz großes Kino!"
Doch nicht nur die darstellerischen Qualitäten Waltz‘ und übrigens auch DiCaprios begeistern den routinierten Cineasten über die Maßen. Auch die Auswahl der Primärliteratur, derer sich Tarantino so ungehemmt bedient, verdient Respekt. Sergio Corbuccis Original-Django wird just an den Stellen recycelt, die auch heute noch, vierzig Jahre später, im Lichtspielhaus ein zufriedenes Lächeln aufs Gesicht zaubern. Vom vortrefflichen Soundtrack über die plattgemachten Rassisten bis hin zum beinahe artistisch anmutenden Waffeneinsatz des Helden zitiert Tarantino genau das, was sich lohnt, noch einmal gezeigt zu werden. Freilich ist historisch einiges im Argen bei seiner wilden Fahrt durch die Baumwolle. Es gab damals, 1858, weder Sonnenbrillen noch Patronenwaffen noch den Ku-Klux-Klan. Natürlich gab es auch keine Schwarzen zu Pferd und erst recht nicht hinter einer Waffe, aber was soll das Nörgeln? Es ist eben Tarantino und wer hier Realitätsbezug entdeckt, der vermutet wahrscheinlich auch den Weihnachtsmann auf dem Mond.
Interessant ist überdies die Annäherung Tarantinos an die deutsche Sprache, die ein weiteres Mal ein wesentlicher Bestandteil seines Schaffens ist. Waltz bietet dem Ausnahmeregisseur die Möglichkeit, dem amerikanischen Publikum Einblicke in die deutsche Vergangenheit zu gewähren, die bei genauerer Betrachtung fast versöhnlich wirken. Es gab ein Deutschland vor dem Dritten Reich und da wurde Rassismus im Vergleich zu anderen Ländern der Welt eher klein geschrieben. Man sympathisierte im Lande Beethovens während des Bürgerkriegs mit den Sklavenbefreiern, also mit der Union, und eben nicht mit der Konföderation. Das haben viele Amerikaner den Deutschen bis heute nicht vergessen. Zehntausende deutsche Emigranten verbluteten, eben erst in der Neuen Welt angekommen, freiwillig auf den Schlachtfeldern von Gettysburg oder Antietam für die Freiheit. Welcher deutsche Feuilletonist weiß das heute? Vermutlich der gleiche gebildete Mensch, der beim Nibelungenlied nicht erst Wikipedia bemühen muss, um zu wissen, wer Siegfried war. Deutsche Literatur besteht aus so viel mehr als Brecht und Mann. Halb so wild, denn Quentin Tarantino ist sich dieser Schieflage bewusst. Auch wenn er in seinen Rollen selbst nicht selten so wirkt, ungebildet ist der Mann nicht. Womöglich ist seine ausgesprochene Affinität zu den „Germans" eines Tages auch für den deutschen Durchschnittszuschauer von praktischem Nutzen. Aber hören wir auf zu philosophieren. Die Deutschen kommen diesmal jedenfalls ziemlich gut weg, was nach all dem spielbergschen Flecktarn-Tontauben-Schießen auch mal ganz erholsam ist.
Neben all dem Leckeren, das Quentin Tarantino uns hier kredenzt, muss doch ein überdimensionierter Wermutstropfen geschluckt werden. „Django Unchained" ist gut eine halbe Stunde zu lang geraten. Das wäre eigentlich kein größeres Problem, wenn dem Film nicht gerade dann, auf der Zielgeraden sozusagen, völlig die Luft ausgehen würde. Sowohl die überaus intelligenten Dialoge als auch die brillant ins Werk gesetzte Originalität der Story wird in gut dreißig Minuten, wie in einem schlechten 70er Western, mutwillig in Stücke geschossen. Das hat bei Tarantino zwar System, macht die Sache aber nicht besser. So unterhaltsam hirnloses Geballere auch sein kann, hier zerstört es das interessante Flair des Films. Ein aufmerksamerer Blick aufs Original hätte genügt, vor Augen zu führen, dass ein fest im Sattel sitzender Western nur einen Showdown braucht, um seine Geschichte fulminant zu Ende zu bringen.
Quentin Tarantino ist ein Phänomen. Niemandem sonst gelingt ein solcher Spagat zwischen Gewaltverherrlichung und positivem Feuilleton. Die gleichen Zeitungsleute, die Sylvester Stallone und Liam Neeson für ihre nachdrücklich wenig pazifistische Vorgehensweise schelten, winken die Gewaltexzesse des beliebten Kultregisseurs ohne mit der Wimper zu zucken nach hinten durch. Ob sie sich bewusst sind, dass hier Pazifismus ebenso mit Füßen getreten wird wie bei der so unbeliebten Konkurrenz? Vermutlich. Aber Tarantino setzt jeden Kritiker versiert matt. Er taucht die von ihm eingelassenen Blutbäder strategisch geschickt in eine Marinade aus maximierter politischer Korrektheit. Ob Nazis getötet werden oder irre Misogynisten. Es erwischt die Richtigen. Das ist zwar eigentlich auch bei den von Liam Neeson ins Jenseits beförderten Mädchenhändlern oder bei den von Stallone unlängst zerlegten Ex-Kommunisten in Burma der Fall, aber Sachlichkeit ist eine Tugend, die nur vorgeblich im Trend liegt. Wie dem auch sei. Freuen wir uns über Tarantinos neuesten Streich, der also nicht aneckt, auf weiten Strecken völlig überzeugt, einige über sich hinaus wachsende Darsteller aufbietet und erst im letzten Fünftel stark an Substanz verliert - so sehr das auch versucht wird, mit Hekatomben an Kunstblut zu übertünchen. „Django Unchained" ist natürlich kein Meilenstein wie „Pulp Fiction", aber wesentlich besser als „Kill Bill". Und was will man eigentlich mehr?!