Vor 6 Jahren, als damals 19-jährige, hat Julia ihren 8 Tage alten Sohn zu Zieheltern gegeben. Was sollte sie damals mit einem Kind? Sie wollte leben, sie wollte ihr Leben er-leben, ein Kind hätte da nur gestört. Vor zwei Jahren hat sie Werner Kreuz kennengelernt und hat ihr Leben mittlerweile komplett umgekrempelt. Sie ist verliebt in Werner und führt ein biederes Leben als Hausfrau in Berlin. Doch jetzt will sie ihren Sohn wiederhaben. Jetzt, und nicht irgendwann. Nicht in sechs Jahren, und auch nicht wann anders, sondern JETZT. Sie fährt nach Essen und umschleicht das Haus der Familie Kostrowicz. Sie schenkt dem kleinen Carlo einen Spielzeug-LKW, sie klingt nachts an der Tür der Kostrowicz‘, sie geht die mühsamen juristischen Schritte um ihren Sohn zu bekommen. Julia steigert sich in diese Obsession hinein, entfremdet sich zusehendes von Werner, und bringt die Kostrowicz‘ zu völligen Verzweiflung. Denn das Gesetz ist tatsächlich auf ihrer, auf Julias, Seite. Als Carlo mit Polizeigewalt zu den Kreuz‘ gebracht wird zerbricht in Radek Kostrowicz, der der Jungen längst als den eigenen Sohn ansieht, etwas: Er klettert auf den 100 Meter hohen Schornstein Nr. 4 an seiner Arbeitsstätte und droht damit hinunterzuspringen, wenn sein kleiner Carlo nicht bis morgen früh um 6 Uhr wieder beim ihm ist.
Ein fahles Schwarzweiss mit wenigen Kontrasten, spröde Bilder von leeren Räumen, und in diesen leeren und fahlen Räumen Personen die sich umkreisen. Die sich gegenseitig sagen dass sie sich lieben, aber tatsächlich nur in ihrem eigenen leeren und farblosen Kosmos leben. „Der erste Film von Jean Chapot sieht aus wie der fünfunddreißigste Problemfilm eines Delannoy, nur eine gewisse Ambition, die dennoch zu nichts führte, verrät das Debüt.“ schreibt Uwe Nettelbeck in der Zeitschrift Filmkritik (1). Mmh, mal abgesehen davon, dass nur Jean Delannoy gemeint sein kann, dessen Filmographie Problemfilme wie DER GLÖCKNER VON NOTRE-DAME (über die Integration von Behinderten in einer streng katholischen Umgebung) oder ACTION MAN (über das schwierige Verhältnis altgedienter Bankräuber zu ihrer nicht-kriminellen Umwelt) enthält, abgesehen davon weiß ich natürlich was Uwe Nettelbeck meint. Diese trockene und sehr intellektuelle Herangehensweise an ein Thema, dieses L’art pour l’art, das kann einen Zuschauer schon abschrecken, zumal erst recht in der heutigen Zeit, in der im Kino Themen wie Weltzerstörung bzw. Rettung derselben vorherrschend sind und mit Computern anstatt mit Schauspielern dargestellt werden.
SCHORNSTEIN NR. 4, beziehungsweise DIE DIEBIN, wie er im Untertitel und auch in den österreichischen Kinos hieß, macht es seinem (heutigen) Zuschauer sicher nicht leicht. Lange Dialoge (die von der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras geschrieben wurden), eine sprunghafte Handlung, die zwischen Berlin und Essen hin- und herpendelt und dem Zuschauer fortwährende Aufmerksamkeit abfordert, und das Psychogramm nicht nur einer Frau, die irgendwann in ihrer wilden Jugend einmal eine falsche Entscheidung getroffen hat, und die sie jetzt gegen alle Widerstände umkehren will, sondern ebenfalls das Bild eines Mannes (nämlich Radek Kostrowicz), dem etwas genommen werden soll was ihm einmal gegeben wurde, und der diesen Verlust nicht erträgt. Solche Dinge sind, das meine ich jetztsehr wohl im Ernst, schwerer Stoff, normalerweise eher der Abteilung Das kleine Fernsehspiel nachts um 23:45 zuzurechnen.
Aber wenn man aufpasst, wenn man sich dieser trockenen und nicht unbedingt interessant klingenden Thematik hingibt, dann wird man mit Schauspielerkino belohnt, wie man es selten zu sehen bekommt. Für Romy Schneider war es nach David Swifts LEIH MIR DEINEN MANN und Woody Allens WAS GIBT’S NEUES, PUSSY? endlich wieder einmal eine Möglichkeit, eine anspruchsvolle Rolle zu spielen. Sich in eine gequälte und verzweifelte Seele zu versetzen und alles zu zeigen, was sie als Schauspielerin drauf hatte. Und das auch noch in Deutschland, war SCHORNSTEIN NR. 4 doch nach ihrem Fortgang 1959 die erste Rückkehr ins deutsche Kino (die Rolle in Fritz Kortners LYSISTRATA 1961 fand für das Fernsehen statt). Entsprechend freute sie sich über diese Rolle und steckte eine Menge Energie in den Film. Eine junge Frau, die ihr eigenes Kind wiederhaben will, und die es über dem Konflikt, den sie damit auslöst, schier zerreißt. Wobei die Antwort auf die Frage, ob Julia wirklich ihr Kind haben will oder eigentlich nur die Idee eines Kindes liebt, nur ganz zart angedeutet wird. Wie so viele Eltern möchte sie sich die Liebe ihres Kindes erkaufen, und steht dem Weinen des Kleinen eher ratlos gegenüber, was tendenziell zur letzteren Möglichkeit weist. Eine grandiose Leistung Romy Schneiders, diese Ambivalenz zu zeigen, ohne sich dabei festlegen zu müssen!
An ihrer Seite zum ersten Mal Michel Piccoli als ihr Ehemann Werner. Das Paar, das später in vielen Filmen gemeinsam die Seelen- und Liebeswelt so mancher Filmgestalten erkunden sollte, legt hier bereits eine perfekte Chemie an den Tag. Die Dialoge, die Blicke, die kleinen, manchmal kaum ahnbaren Bewegungen … Im Gesamtbild sieht man wie die eigentlich harmonische Ehe unter der Belastung von Julias Besessenheit nach und nach zerbricht, obwohl keiner der beiden dies wirklich möchte. Eine Situation, die sicher keinem gänzlich unbekannt ist: Man lebt sich auseinander, obwohl die grundlegende Zuneigung doch noch da ist. Nur wo? Das Paar liegt nebeneinander im Bett, sie hat ihm die Existenz eines ihm bisher unbekannten Kindes gestanden, und nun will sie seine Berührung als Zeichen seiner Liebe. Piccoli hebt den berührten Arm, nur ein kleines Stückchen, ein paar Zentimeter vielleicht, aber diese paar Zentimeter genügen schon als Zurückweisung. Keine Worte, keine Blicke, nur diese kaum wahrzunehmende Bewegung …
Auf der anderen Seite dann Hans Christian Blech als Radek Kostrowicz. Seit 6 Jahren Vater, und er liebt seine Familie und seinen Sohn über alles. Das Schlimmste was man ihm antun kann ist, seine Familie zu zerstören. Und genau das geschieht! Seine Ungläubigkeit wird zu Ärger, der Ärger zu Wut, die Wut zu Hass und Verzweiflung. Und doch ist alles vertan, weil er sich nicht rechtzeitig um die gesetzlichen Grundlagen seiner Familie gekümmert hat, und nun sieht er nur noch einen einzigen Ausweg: Er will an die Herzen der Menschen appellieren ihm seinen Sohn wiederzugeben, oder er geht in den Tod. In einen spektakulären Tod, der das Gewissen diese schamlosen Person, dieser Julia Kreuz, auf ewig belasten wird. Auch Blech zeigt diese allmähliche Vernichtung seiner Existenzgrundlage stark und intensiv, und da der Fokus der Geschichte mitnichten nur auf Julia liegt, sondern auch Radek einen großen Teil der Erzählung widmet, ist das Mitleid mit diesem armen Mann unweigerlich. Die Lösung dieser Situation scheint unmöglich, keiner der Beteiligten will nachgeben, und der Versuch Werners, mit Radek ein klärendes Gespräch zu führen, scheitert an eben dieser Ausweglosigkeit. Schließlich ist Carlo ebenso seiner wie Julias Sohn. Mehr erfahren wir nicht über Radek, und mehr muss man auch gar nicht wissen – Ein Mann der vor der Vernichtung seiner seelischen Grundlagen steht, das reicht als Charakterisierung und als Handlungsgrundlage völlig aus!
Wie gesagt, wenn man sich auf diese Art Film einlassen kann, wird man mit großartigem Schauspielerkino belohnt. Dazu kommen Bilder, die die Leere dieser Menschen und ihrer Welt perfekt illustrieren. Während außenrum ein ewiges Gewimmel ist, das deutsche Wirtschaftswunder sich in steter Arbeit in Essen und unaufhörlichem Verkehr in Berlin genauso manifestiert wie in dem schmucken Einfamilienhäuschen in der Arbeitersiedlung oder dem kühl-eleganten Appartement des Kreuz’schen Bürgertums, ist innendrin Leere. Oft genug stehen die Protagonisten mit dem Rücken an einer leeren Wand (nicht nur metaphorisch, sondern eben auch bildlich gesprochen), die Barrieren zwischen den Personen werden deutlichst vor Augen geführt, und ganze Szenen scheinen in einem weißen und leeren Raum gedreht worden zu sein. Die damit entstehende Stimmung, der Frost zwischen den Wörtern und das Eis zwischen den Menschen, lässt auch heute noch frieren. Und das eigene Verhältnis zum geliebten(?) Menschen überdenken …
Kunstkino, ja. Schwierig, ja. Aber dabei spannend und überzeugend.
(1) Booklet zur DVD SCHORNSTEIN NR. 4 von Oliver Bayan