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„Sie finden mich im Lexikon unter ‚Soziopath‘.“

Besonders populär war der niederländisch-französische ehemalige Dokumentarfilmer und Regisseur George Sluizer lange Zeit nicht. Dies änderte sich jedoch mit seinem vierten Spielfilm, „Spurlos verschwunden“ alias „The Vanishing“, einem perfiden Psycho-Thriller aus dem Jahre 1988, der auf dem 1984 veröffentlichten Roman „Het Gouden Ei“ des Niederländers Tim Krabbé basiert.

„Ein Held ist nur ein Mensch, der zu einem Exzess fähig ist...“

Die jungen Verlobten Saskia (Johanna ter Steege, „Zauber der Venus“) und Rex (Gene Bervoets, „Crazy Love“) befinden sich auf einer Urlaubsreise durch Südfrankreich, als Saskia plötzlich an einer Raststätte spurlos verschwindet. Es gibt keine Forderungen eines etwaigen Entführers, jedoch auch keine Anzeichen für einen Unfall oder gar Saskias Ableben. Die Polizei ist machtlos. Doch Rex gibt nicht auf und sucht fortwährend intensiv nach seiner Verlobten. Alles andere ordnet er der Suche unter, auch seine Beziehung. Er ist besessen davon, zu erfahren, was mit Saskia passiert ist. Nach drei Jahren meldet sich auf einen TV-Auftritt Rex‘ hin unvermittelt ihr Entführer: Raymond Lemome (Bernard-Pierre Donnadieu, „Unter Wölfen“), ein unauffälliger Familienvater…

Minimalistische Synthesizer-Musik erklingt und ein Paar bleibt mit seinem Auto in einem Tunnel liegen. Es handelt sich um Saskia und Rex in einer allein schon aufgrund des Filmtitels höchst beunruhigenden Szene, in der der Zuschauer jedoch aufs Glatteis geführt wird: Obwohl sich die Verliebten kurz trennen, verschwindet Saskia hier noch nicht. Daraufhin wird eine Figur mit einem vermeintlich gebrochenen Arm eingeführt, von der zunächst unklar ist, welche Rolle sie spielt. Sie stellt sich als der Entführer Lemome heraus, der in einem parallelen, sich aus Rückblenden zusammensetzenden Handlungsstrang bei der akribischen Vorbereitung seiner Untat gezeigt wird. So verfolgt man als Zuschauer sowohl Rex‘ verzweifelte Suche als auch Lemomes Plan, bis beide sich nach einem Zeitsprung von drei Jahren persönlich begegnen.

Der Zuschauer wird nun mit einem nach wie vor äußerst kühl und überlegt, intelligent agierenden Mann konfrontiert, der erfolgreich ein Doppelleben führt. Die Fragen nach Saskias Verbleib und Lemomes Motiv stellen sich weiterhin, werden erst nach und nach im Rahmen der Handlung geklärt, die sich zu einer Art Psychogramm eines Soziopathen entwickelt hat. Lemome ist die Antithese zu Rex. Während Rex gefühlsbetont und leidenschaftlich durchs Leben geht, ist Lemome ein gefühlskalter, jeden Schritt genauestens berechnender Mathematiker, stoisch, in sich ruhend, nichts dem Zufall überlassend und geduldig abwartend. Von seinen Taten verspricht er sich einerseits emotionale Höhepunkte, die ihm seine bürgerliche Existenz und seine Begeisterungsunfähigkeit abseits perfekter Kapitalverbrechen verwehrt, und andererseits eine Art „Beweisführung“ nach Vorbild naturwissenschaftlicher Forschung. Er erschreckt und fasziniert zugleich.

Währenddessen wird das ohnehin behäbige Erzähltempo jedoch immer stärker gedrosselt, viele Szenen werden zu langwierig in allen Details ausgekostet. Dies geht zu Ungunsten der Spannung, wenngleich „Spurlos verschwunden“ auf ein wahrhaft superfieses Ende zusteuert, in dem Lemome mittels seines größten Guts, dem Geheimnis um Saskias Verbleib, sich Rex‘ größte Schwäche, seine unbändige Neugierde, zunutze macht. Lemome pokert hoch und seine Karten sind nicht einmal gezinkt. Trotz dramaturgischer Durststrecken hält Sluizer sein Publikum so bei der Stange, denn dieses wird mit der Zeit nicht minder neugierig als Rex. Belohnt wird es mit einer in sich runden, emotional mitnehmenden Handlung, soliden bis guten schauspielerischen Leistungen und einer wahrlich süßen Saskia (ter Steege in ihrem Spielfilmdebüt), um die es in der Tat mehr als schade ist. „Spurlos verschwunden“ ist ein Film über Sehnsucht und Liebe, über Einsamkeit und Besessenheit. Und er erzählt davon, wie das Böse in Gestalt kalter Rationalisten einem erst die Liebe und schließlich auch alles andere nimmt. Das macht ihn nach Verblassen seiner Schockwirkung nicht nur melancholisch, sondern tieftraurig.

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