* Spoiler *
„Ich hätte Toms Video nicht sehen dürfen.“ Diese Erkenntnis teilt der verstört wirkende Filmstudent Robert Kassai dem Zuschauer gleich zu Beginn des Films mit. Und schon ist dessen Neugier geweckt.
In einem Dorf bei Hannover verschwindet die Familie Schellenberg spurlos. Angehörige, Nachbarn und Polizei sind ratlos, denn auch nach einjähriger Ermittlungsarbeit gibt es keinerlei Hinweise darauf, was mit Mutter Ruth, ihrem neuen Mann Walter und den Kindern Tom und Severine geschehen sein könnte. Robert Kassai erfährt von der Geschichte und möchte diese in einem Dokumentarfilm thematisieren. Seine Recherchen vor Ort – Interviews mit den Nachbarn und der Mutter des Familienvaters sowie Besichtigungen des Hauses der Familie – bleiben jedoch ergebnislos, bis eines Abends unerklärlicherweise ein Videoband in seiner Wohnung auftaucht. Es handelt sich um „Toms Video“, das Videotagebuch des 16jährigen Sohnes der verschwundenen Familie. Die Hoffnung, darin Antworten zu finden, zerschlägt sich jedoch bald. Die gezeigten Ausschnitte aus dem Familienleben wirken zunächst relativ unspektakulär, doch irgendwann häufen sich die rätselhaften Vorkommnisse. Etwas ist faul im Hause Schellenberg – doch was? Irgendwie wird Robert beim Ansehen des Videos selbst in das Rätsel verstrickt und dabei so traumatisiert, dass er sich in die Psychiatrie einweist. Den Dokumentarfilm stellt seine Kollegin Anne von Buskow fertig, wobei darin nun auch Roberts Schicksal zum Thema geworden ist. Der Zuschauer bleibt ziemlich ratlos zurück und muss sich selbst einen Reim auf die Geschehnisse machen.
Die Scheindokumentation „Toms Video“ verlangt dem Zuschauer schon ein wenig Geduld ab. Insbesondere der erste Teil, der die Recherchen des Filmstudenten Robert zeigt, gestaltet sich etwas zäh, vor allem die Erkundung des Hauses zieht sich ziemlich in die Länge. Dennoch erhält man eine gute Einführung in die Thematik, die Interviews und Personen wirken alle real. Interessanter wird es im folgenden „Found-footage-Teil“ (das eigentliche „Toms Video“ als Film im Film), der dem Zuschauer Einblicke in das nicht immer harmonische Familienleben der Schellenbergs gibt. Dieses wird durch improvisierte Dialoge sehr realitätsnah dargestellt und wirkt erfreulicherweise nie gekünstelt. Tom selbst nimmt man zunächst als normalen, pubertierenden Jugendlichen wahr, der alterstypische Erlebnisse und Konflikte zu bewältigen hat. Später erfährt man dann, dass er seit dem Auseinanderbrechen der Familie psychische Probleme hat und Medikamente nehmen muss. Seine Rebellion gegen den aus seiner Sicht „teuflischen“ Stiefvater scheint mit der Zeit wahnhafte Formen anzunehmen, doch ist er wirklich krank? Oder ist der Stiefvater wirklich nicht der, als der er sich ausgibt? Geht vielleicht ein Geist im Hause um? Wer führt zwischendurch eigentlich die Kamera? Entwickelt sie ein Eigenleben? Die Spannung baut sich subtil aber stetig auf, es passieren unerklärliche Dinge, bis auf dem Höhepunkt des unheimlichen Geschehens die Aufnahme plötzlich endet. Sie setzt dann später für einige Sekunden wieder ein – für Robert Kassai wahrscheinlich die entscheidenden Sekunden - nur um dann endgültig abzubrechen.
Der letzte Teil zeigt mit Therapiegesprächen und Interviews mit einer Ärztin die psychischen Auswirkungen, die „Toms Video“ bei Robert Kassai hinterlassen hat. Tom taucht übrigens auch wieder auf, wenn auch auf ungewöhnliche Weise.
Manch einen mag es stören, wenn in einer Geschichte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden. Ein anderer wiederum findet gerade diese Rätselhaftigkeit so faszinierend, dass ihn ein Film auch Tage später noch hin und wieder beschäftigt. So erging es mir jedenfalls in diesem Fall - anders als bei anderen Found-footage-Filmen wie „Blair Witch Project“ oder „Paranormal Activity“, mit denen „Toms Video“ verglichen wurde. Tatsächlich bleibt nicht nur das Verschwinden der Familie Schellenberg rätselhaft, sondern vieles andere auch: Warum ist Toms Halluzination (war es eine?) auf dem Video sehen? Was hat es mit dem „endlosen Tunnel“ auf sich? Und wer hat Robert Kassai das Videoband in die Wohnung gelegt? Die Liste der Fragen ließe sich noch fortsetzen. Aber gerade das scheint das Prinzip des Films zu sein: Spannung durch möglichst wenig Information. Auch ein paar kleine Schockmomente erwarten den Zuschauer. Durch die ein oder andere Kürzung oder Straffung wäre der Spannungserhalt vielleicht noch besser gelungen. Musik und Effekte sind gut gemacht und passend eingesetzt, auch die Schauspieler sind gut gewählt und leisten hervorragende Arbeit.
Beste Szenen:
- Der Stiefvater im Nachbarsgarten und die Nachwirkung seines Auftritts
- Toms letzter Versuch, seine Mutter davon zu überzeugen, dass Walter „böse“ ist. (Sehr gut gespielt von Patrick Mölleken und Beate Kurecki)
Auch schön:
- Der Abspann, der den Schein einer auf wahren Begebenheiten beruhenden Dokumentation aufrechterhält.
Irgendwie witzig:
- Die Figur Hermine Schellenberg (die Großmutter) erinnert vom Aussehen her an Professor McGonnagall aus den Harry-Potter-Filmen. (Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein,)
Fazit: „Toms Video“ ist eine ungewöhnliche, aber durchaus interessante Mischung aus Mysteryfilm und Psychodrama in quasidokumentarischer Inszenierung, die sicherlich nicht jedermanns Geschmack trifft, und für die man etwas Zeit braucht, um sich darauf einzulassen.
7/10