Wenn es wirklich eine Sache gibt, die man diesem Film zu Gute halten muss, dann dass er einen förmlich dazu nötigt über ihn zu reden. Darunter auch ich, der ihn sich eigentlich nur zum Zeitvertreib ansehen wollte. Es liegt nicht in meinem Sinne noch einmal den ganzen Trubel um Charlotte Roches Roman zu rekapitulieren, da dieser den meisten sicher noch im Gedächtnis geblieben ist. Dennoch möchte ich erwähnen, dass ich das Buch seiner Zeit im Alter von 14 Jahren gelesen habe.
Mein erster Eindruck war sehr durchwachsen. Besser gesagt ich fühlte mich fast sprachlos in Anbetracht der Tatsache, wie hier Elemente zusammen kamen, die ich sehr faszinierend und einfallsreich fand, die ihn auf eine spezielle Art herausstechend und einzigartig machen und solche, die ich einfach nur katastrophal fand. Um näher ins Detail zu gehen, muss ich sehr explizit auf bestimmte Punkte der Handlung eingehen, deswegen: Spoiler-Warnung!
Zunächst einmal sei gesagt, was den Aspekt der Literaturverfilmung angeht, hat man ganze Arbeit geleisten. Er ist nicht unedingt detailgetreu, doch fängt ziemlich gut den Geist des Romans ein, was in meinen Augen ein deutlich wichtigerer Aspekt ist. Die Darsteller sind in ihren Rollen überzeugend und auch technisch ist er ganz solide gemacht. Doch diese Aspekte sind es nicht, die ihn von einem typisch deutschen Film unterscheiden. Neben dem offenen Umgang mit Themen, wie Intimhygiene, Analfisuren und weiteren, vor denen jeder, der schon beim Anblick des nackten Ich's im Spiegel, Unwohlgefühle empfinden, geradezu in Schockstarre verfallen würden, ist besonders der Umstand, dass es sich hierbei um eine Komödie handelt überaus interessant. Ja ich musste lachen. Oft sogar. Doch war dies mehr ein Mechanismus der Verteidigung, als Folge der Schreibe oder visuellen Komik, die ebenfalls vorhanden ist. Um es mal salopp auszudrücken: Was Körperhorror (und als das würde ich einige Szenen von Feuchtgebiete definitiv werten) angeht, habe ich das Beste der 70er, 80er, 90er und den derbsten Shit der letzten anderthalb Dekaden gesehen, doch noch nie ist es einem Film gelungen ein so starkes Gefühl des Unwohlseins in mir hervorzurufen, dass sogar noch das in der Schlüsselszene von 127 Hours übertraf. Dies betreffend sei erwähnt, dass bei mir die Toleranzgrenze sehr schnell überschritten ist, bevor Gewalt und Ekel so überzeichnet wirken, dass ich sie nicht mehr ernst nehmen kann. Dies war hier nicht der Fall. Was diesen Aspekt angeht, war der Film ein Treffer ins Schwarze.
Kommen wir zur Handlung. Besser gesagt zur relevanten Handlung. Es geht um die Jugendliche Helen, die uns ein paar sehr intime Einblicke in ihr Intimleben und ihre seltsamen Vorlieben gibt. Es beginnt damit, dass sie sich beim Rasieren eine Analfisur zufügt, diese ignoriert, bis es durch ihre Hämoriden so schlimm wird, dass sie ins Krankenhaus muss, wo sie operiert und ihr Stücke aus dem Anus entfernt werden. (Sollte sich meine Freundin jemals darüber beschweren, dass mein Arsch zu haarig wäre, dürfte dieser Film schonmal das passende Totschlagargument sein, diese Diskussion im Keim zu ersticken.) Im Krankenhaus erzählt sie dem Zuschauer von Erlebnissen mit ihrer Besten Freundin, wie sich ihre Eltern haben scheiden lassen und baggert den Krankenpfleger Robin an. Mit Hilfe eines Stuhlbeins verschlimmert sie ihre Fisur wieder, besser gesagt verzögert die Genesung, um ihre Eltern wieder in einen Raum zu kriegen, um sich zu vertragen und wieder zusammen zu kommen. Und am Ende funktioniert das auch noch. Und damit wären wir an dem Punkt angelangt, was mir zu Beginn sauer aufgestoßen ist.
Helen ist zwar eine im größten Maße faszinierende Person, die sich deutlich von anderen Archetypen der deutschen Film- und TV-Landschaft abhebt, doch keines Falls eine mit der sich der durchschnittliche Zuschauer identifizieren kann. Was zunächst nichts schlimmes ist. Andere Protagonisten wie beispielsweise Alex in Uhrwerk Orange, sind ähnlich veranlagt. Anders als Helen gelingt es diesen jedoch meist durch ein Hintertürchen (meist durch das erregen von Mitleid; in Alex's Fall durch geschickt psychologische Wortwahl) dem Zuschauer näher zu kommen. Helen bleibt schlichtweg eindimensional in ihrem durch und durch egoistischen Handeln. Zu Beginn unterhält sie sich mit ihrer Mutter (zu der ich gleich noch komme) und sagt ihr, dass sie sie unbedingt wieder mit ihrem Vater zusammenbringen will. Ihre Mutter fragt sie, warum sie ihr das antun möchte und Helen erwidert, weil sie es eben so will. Später erzählt ihre Beste Freundin ihr, dass sie schwanger ist, worauf Helen sie egoistisch nennt, da sie damit ihre Freundschaft zerstören würde. Dieser Handlungsstrang wird danach übrigens nie wieder aufgegriffen und wir erfahren nicht, ob ihre Freundschaft wieder gerettet werden konnte.
Nun zur Mutter. In der ersten Szene, in der wir sie zu sehen bekommen, will Helen von einer Mauer springen und sie hält die Arme auf um sie zu fangen. Als ihre Tochter springt zieht sie die Arme wieder weg und lässt sie sich das Knie aufschlagen. Dies rechtfertigt sie mit der Aussage, dass sie niemandem trauen soll (außer ihren Eltern) und lieber jetzt ein aufgeschlagenes Knie, als später ein gebrochenes Herz. Wow. Noch heuchlerischer geht es kaum. Auch den Rest des Films über macht sie keinen guten Eindruck. Ihr Charakter ist aufbrausend, bipolar, im höchsten Grade unliebsam, neurotisch und als man dann zu der finalen Enthüllung kommt, dass sie mit Helens Bruder im Babyalter einen Selbstmordversuch unternommen hat, kommen einem fast die Tränen, bei der Tatsache, dass es nur bei einem Versuch geblieben ist. Ohne zu harsch wirken zu wollen, sage ich, dass dies vermutlich die einzige Familie ist, der eine tote Mutter gut getan hätte. Sie ist kein Opfer irgendwelcher Umstände, die sie nicht kontrollieren kann, sondern - wie Helen selbst sagt - mit diesen Veranlagungen geboren. Da Helen sich selbst in ihr wieder erkennt (zu meinem Unverständnis) hat sie sich auch sterilisieren lassen, wozu ich auch wirklich nur hätte raten können, wenn es wirklich stimmen sollte, dass alle Frauen dieser Familie dieses Schicksal erleiden werden. Die einzigen Personen gegenüber der man Mitleid empfindet sind die Männer der Familie. Sicher der Vater hat auch Fehler gemacht, aber keine die diesen Wahnsinn verdient hätten. Auch Helen bleibt außen vor, da sie es trotzdem irgendwie geschafft hat eine eine relltiv selbstbewusste Persönlichkeit zu werden, was durchaus bewundernswert ist.
Alles in allem eine ziemlich kaputte Familie. Jeder durchschnittliche Film hätte mit diesen Figuren ein nettes Familiendrama inszenieren können, doch nicht dieser. Er kam mir vor wie die Antithese zu Stephen Kings A Good Marriage, der zunächst als Thriller umgesetzt, in einer absurd humorvollen Antiklimax endet. Hier haben wir nun eine Komödie, die von dramatisch intensiven Szenen gekrönt wird. Der visuelle Stil, besonders in der Szenenfolge, die auf die Enthüllung des Selbstmordversuchs hinarbeitet, erinnert in ihrer eintönigen Überlastung (hier pink) an die Machart der Saw-Filme (blau und grünstichig). Durchaus faszinierend und unerwartet erinnerungswürdig. Doch macht das den Film automatisch gut? Nicht wirklich. Dafür gibt es jedoch andere Gründe. Es hat mich einiges Nachdenken gekostet, doch mehr und merhr, drängte sich mir dabei der Verdacht auf, dass hinter diesem Kuriosum, eine versteckte Genialität liegen könnte. Und bei Gott, ich habe sie gefunden.
Wenn man sich Zeit nimmt und sich mit Helen näher auseinandersetzt (mehr als sie nach dem ersten Ansehen eigentlich verdient hätte) kommt man ziemlich schnell auf den Trichter, dass sie gar nicht gemocht werden soll. Ihr so weit übersteigerter Egozentrimus, dass sie bereit ist, sich selbst solche Schmerzen zuzufügen, nur um ihren Willen durchzusetzen, selbst wenn dieser gegen das Glück ihrer Eltern arbeitet (der Vater ist alleine definitiv glücklicher, bei der Mutter bezweifle ich, ob sie auf Dauer überhaupt dazu in der Lage wäre), sind in Wahrheit blanker Hohn auf die Jugendkultur unserer Zeit. Sich selbst für Aufmerksamkeit zu verletzten ist in gewissen Kreisen des Internets und der soziallen Netzwerke längst salonfähig geworden, etwas über das man sich austauschen und die eigene Sucht nach Beachtung in Form von gelikten Bildern, tiefsinnigen Sprüchen und Wir-sind-für-dich-da ... -Hashtags befriedigen zu können. Ich würde sogar soweit gehen und sagen, dass das Buch fast schon seiner Zeit um wenige Jahre voraus war. Helen bekommt am Ende zwar was sie will, doch alles was sie davon hat sind, gebrochene Freundschaften und zum Scheitern verurteilte Beziehungen (ob nun die ihrer Eltern oder ihre mit Robin spielt keine Rolle). Alles um sie herum geht den Bach runter und ihr ist es komplett egal. Deutlich sieht man dieses absolute Unbewusstsein für Konsequenzen, in einer Split-Screen Einstellung. Auf der einen Seite sehen wir Helen und ihre Freundin wie sie überschwinglich im Drogenrausch durch die Stadt ziehen, während ihr Freund Michael, dem die Drogen eigentlich gehörten, von Gangstern in einem Pool gewaterboarded wird, weil er diese nicht dabei hat. Und trotzdem versöhnt er sich später wieder mit ihnen. Da wir die Handlung nur von Helen erzählt bekommen und sie sich nicht um die Konsequenzen schert, ist es folgerichtig nur logisch, dass auch der Film keine Antworten darauf gibt, wie es mit den Figuren weiter geht. Werden ihre Eltern auf Dauer zusammen bleiben? Was wird aus ihrer schwangeren, ehemaligen besten Freundin? Wie wird es mit ihr und Robin laufen? Alles nicht wichtig. Helen hat ihren Willen. Das reicht ihr, also muss es auch dem Zuschauer genügen.
Durch diese Betrachtungsweise bleibt am Ende eigentlich wenig übrig, das gegen den Film spricht. Er ist erfrischend anders, sowohl in Inszenierung, als auch Charaktären. Ihn zu sehen ist ein definitiv einzigartiges Erlebnis, was allein ihn schon sehenswert macht. Und letzten Endes ist es erstaunlich, einen Film ohne symphatietragende Figuren zu sehen, der in seiner abstrusen Art dennoch funktioniert. Der einzige Grund, der noch bleibt (und das ist ein großer) ist, der, dass es kein Film ist, denn man sich all zu schnell mehrmals ansehen würde.