La Journée d'une paire de jambes (1909) von Anonymus
Des Pieds et des mains (1915) von Gaston Ravel
La Folie du Docteur Tube (1915) von Abel Gance
2, 3 Beispiele der frühen französischen Avantgarde
Von den frühen Avantgardefilmen der 10er Jahre, zu denen vor allem die überwiegend nicht mehr einsehbaren Beiträge des italienischen, futuristischen Films zu zählen sind, ist vor allem Abel Gances - auch als Sci-Fi-Komödie goutierbarer - "La Folie du Docteur Tube" im kollektiven Gedächtnis verankert geblieben, was vermutlich nicht zuletzt daran liegt, dass Gance später mit "La Roue" (1923) und "Napoleon" (1927) zwei Meilensteine des (französischen) Stummfilms abgeliefert hat; und wie in diesen - teilweise etwas schwülstigen, in ihren inszenatorischen Höhenflügen gelegentlich etwas affektiert wirkenden - Monumentalepen stehen die avantgardistischen Züge nicht für sich allein, sondern inmitten einer Handlung. Aber während in "La Roue" und "Napoleon" die teils rasante, schwindelerregende Montage, der rasche Wechsel grundverschiedener Einstellungsgrößen, die Vergrößerung des Bildformats über zwei zusätzliche Leinwände und die Einfärbung der Einstellungen in den Farben der Tricolore dazu dienen, die Entwicklung der Handlung zu unterstützen und die dramaturgischen Zuspitzungen zu intensivieren, da dreht sich in "La Folie du Docteur Tube" die Handlung hingegen ganz und gar um den avantgardistischen Effekt: Die diversen Verzerrungen des Bildes, die Gance hier präsentiert, sind Dreh- und Angelpunkt der Handlung, die mit einem reichlich zerstreuten, eierköpfigen Wissenschaftler aufwartet, der sich, seinem Gehilfen und seinen Kindern (teilweise eher zufällig) bewusstseinserweiternde Substanzen zuführt, woraufhin allen Versuchskaninchen die Umwelt vor den Augen zu zerfließen scheint. Obwohl also auch "La Folie du Docteur Tube" kein reiner Avantgardefilm, sondern vor allem eine - recht alberne, von allerlei überdrehter Mimik und Gestik gekennzeichnete[1] - Komödie ist, so nehmen die avantgardistischen Züge dennoch eine zentrale Stellung ein, die ihnen in Gances späteren Filmen weitestgehend abgeht. Gerade in der zweiten Hälfte des Films, in der sich alle Figuren im Arbeitszimmer des Wissenschaftlers versammeln und dabei der schiefen Wahrnehmung anheimfallen, befreien sich die beinahe bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Bilder aus dem Gerüst der Handlung und gerinnen zu reinen Sinneseindrücken, zu seltsam geformten, verzerrten, teilweise sich spiegelnden Flächen, deren kontinuierliche Veränderung umso dynamischer ausfällt, je häufiger die Figuren vor der Kamera zwischen Vor- und Hintergrund hin und her pendeln. In diesen Momenten, in denen der Film den Reiz eines Zerrspiegelkabinetts entfaltet, ist seine Qualität am beeindruckendsten; gerahmt werden diese Eindrücke jedoch von konventionellen Spielszenen, die bereits 1915 weder als sonderlich sorgfältig inszeniert, noch als sonderlich komplex entwickelt gegolten haben dürften. Das Spiel mit den freien Formen wertet den Film jedoch gehörig auf, wenngleich es noch der Begründung durch die Handlung bedarf, anstatt für sich allein zu stehen.
Viel unbekannter, aber weitaus gelungener ist dagegen ein zeitgleich entstandener Avantgardeklassiker von (dem vergleichsweise unbekannt gebliebenen Filmemacher) Gaston Ravel und seinem (wieder erheblich populäreren) Regieassistenten Jacques Feyder, der sich später mit Klassikern wie "L'Atlantide" (1920), "Crainquebille" (1922), "Visages d'enfants" (1925) - seinem vielleicht schönsten Film! - oder "La kermesse héroïque" (1935) in die Filmgeschichte eingeschrieben hat. "Des Pieds et des mains", so der Titel dieses herausragenden Avantgarde-Frühwerks, kam jedoch nicht aus dem Nichts, sondern verdankt sich (mindestens) einem früheren Kurz-Stummfilm: "La Journée d'une paire de jambes" - 1909 unter anonym geführter Regie entstanden - präsentierte seinerseits die Erlebnisse des titelgebenden Beinpaars. In diesem wenig bekannten Film hält die Kamera in einer Abfolge statischer Einstellungen die Reise eines Mannes fest, der werktags Haus und Gattin verlässt, jedoch weniger an seinem Arbeitsalltag auf der Baustelle interessiert ist, sondern vielmehr dem Kneipenbesuch samt dreisten Flirts und - aus dem Alkoholrausch resultierenden - ungehörigen Übergriffen auf einschreitende Polizeibeamte frönt. Die Kamera blickt derweil stets aus Bauchnabelhöhe auf die - zumeist im Knie- oder Oberschenkelbereich abgeschnittenen - Beine der Hauptfigur und ihrer Mitmenschen und versucht offenkundig - wenn auch etwas slapstickhaft - eine universelle Körpersprache sichtbar werden zu lassen: die wippenden Füße der Gemahlin, die ihrem Gatten nur auf Zehenspitzen einen Abschiedskuss zukommen lassen kann, das halbwegs elegante, teilweise auch etwas unbeholfene Anknicken der Kniegelenke beim Stehen am Tresen, das ungehörige Füßeln unter dem Schutz des Tisches mit der (fremden?) Dame in der Kneipe, das schwankende Voreinandersetzen der Füße nach reichhaltigem Alkoholgenuss, das nervöse Tippeln mit der Fußspitze im Moment der Ungeduld - in vielerlei Hinsicht schaffen es Fuß- und Beinarbeit, die Figuren zu charakterisieren und das Geschehen ausreichend zu schildern. Bisweilen geschieht das alles auch weniger subtil: das Getrampel der Füße im Handgemenge (nach dem aufdringlichen Füßeln), das unstete Hin- und Herlaufen der Beine, wenn Freunde die Hauptfigur zu Kneipenbesuchen überreden, und die kraftvollen Tritte im ungehemmten Streit geraten zu etwas aufdringlichen Bemühungen, die Beine zum Spiegel der gesamten Handlung geraten zu lassen - zumal das Torkeln und Zutreten mit einem erheblichen Overacting praktiziert wird. Diese etwas plumpen Züge werden auf inszenatorischer Ebene durch die wenig elegante - aber 1909 durchaus noch aktuelle - Abfolge statischer Einstellungen zusätzlich betont: kein Handlungsort, der wenigstens zwei verschiedene Perspektiven oder Einstellungsgrößen aufweisen würde. Diesem rohen, etwas ungeschlachten Tonfall entspricht schließlich das Ende: von der Polizei bei der Gattin abgeliefert, wird die Hauptfigur mit allerlei Geschirr beworfen und mit dem Besen geprügelt, bis die Kamera nach einem letzten Schnitt erstmals Oberkörper einfängt - clownesk überzeichnete, grimassierende Gesichter, die den Mann als bärtigen Pantoffelhelden mit Trinkernase ausweisen und die Frau als fette Matrone mit wütenden Zügen präsentieren. Rüder, polternder Humor einer derben Farce beendet den Film, dessen grobschlächtigen Momente damit im Nachhinein nochmals unterstrichen werden.
"Des Pieds et des mains" ist hingegen in jeder Hinsicht verfeinert worden: Die Kameraarbeit ist nun zu Schwenks fähig, die Montage verkettet zweierlei Handlungsorte systematisch als Parallelmontage, die Sprache der Hände und Füße enthüllt sich nun vollständig in kleinen Nuancen und zudem verlagert sich die Handlung - zufällig oder bewusst - vom Milieu der Kneipe, der Baustelle, der Arbeiter, der Polizeiwache in das Milieu des gehobenen, feingeistigen Bürgertums; der rüden Farce folgt nun eine poesievolle, sensible und künstlerisch ambitionierte Liebesgeschichte, die sich in erster Linie über das Spiel der Füße und Hände erzählt.
Die Geschichte der feinen Dame, die von einem Verehrer (mit dem sie denselben Maniküristen teilt) diverse, vergeblich aufgesetzte Liebesbriefe erhält, die sie - höchst grausam, so das Urteil des Films - zurückweist, um ihm nach zwei tatkräftigen Rettungsaktionen doch noch ihre Gunst zu gewähren und am Ende des Films seine Gemahlin und Mutter eines kleinen Kindes zu werden, kommt in unzähligen Einstellungen daher, in denen Hände schreiben, Briefe öffnen und verschließen, Briefe überreichen, Portraits zeichnen, Degen oder Revolver führen, andere Hände ergreifen (oder sie pflegen), in denen Füße in Schuhe schlüpfen oder ihnen wieder entsteigen, anderen Fußpaaren verschämt näherkommen oder vorsichtig schleichend, energisch-tatkräftig schreitend oder verspielt tanzend die Räumlichkeiten durchmessen. Bisweilen mutet die Haltung der Hände etwas unnatürlich an - was an manchmal ungünstig gewählten Einstellungsgrößen liegt[2] -, meistens fügen sich Hände und Füße, Arme und Beine allerdings harmonisch in die Einstellungen ein und bebildern mal nuanciert, mal akzentuiert eine manchmal natürlich, manchmal affektiert anmutende Körpersprache.
Gerade die Hände werden als kommunikativ agierende Körperteile präsentiert: nicht bloß, weil sie zeichnen, schreiben und Botschaften überreichen, sondern weil das Ausdrucksvermögen, das im Spiel der Finger liegt, ungleich größer anmutete als jenes der Füße und Beine, welche hier - anders als in "La Journée d'une paire de jambes" - den Status eines Fetischs erhalten: wenn der Mann seiner Angebeteten den Fuß aus einem in den Straßenbahnschienen verkeilten Schuh zieht und dieser edel bestrumpfte Fuß solange durchgestreckt in der Luft verharrt, bis der Mann die Frau auf Händen davonträgt, liegt eine erotische Spannung in den Bildern, die zum Teil aus der (zu warten scheinenden) Anspannung des Körperteils, zum Teil aus der fetischisierenden Bekleidung resultiert; den Damenstrümpfen, dem edlen Schuhwerk, dem An- & Entkleiden des Fußes, den plüschigen Seidenkissen (und dem furchteinflößenden Löwenkopf des Läufers, der unter den Füßen der Frau auch ein wichtiges Mittel der Charakterisierung darstellt), auf denen die Frauenfüße gelegentlich ruhen, gilt dementsprechend ein großer Teil der Aufmerksamkeit (was in geringerem Ausmaß auch für den Armschmuck der Dame gilt). Das lässt Ravel auch einigen Platz für einige Gags: als sich ein Einbrecher im Haus der Dame hinter einem Vorhang verbirgt, zeigt die Kamera beispielsweise zwischen sieben hochwertigen Damenstiefeletten ein lumpiges Paar verbrauchter Treter. Neben dieser Erotisierung und Fetischisierung enthält der Film allerdings auch den Hinweis darauf, dass solch ein Enthüllen anderer Körperteile nicht mehr verheißungsvoll, sondern geradezu anstößig wäre: wenn der Mann beim Tanz einer fremden Frau versehentlich auf das Abendkleid tritt, woraufhin es seiner Besitzerin während einer Drehung kurzerhand vom Körper gerissen wird (was eine eingeschobene Duell-Nummer nach sich ziehen wird), ist der Blick auf Beine und Füße nämlich nichts anderes als eine Zensurmaßnahme, die das Peinlichste verbirgt.
Aber auch "Des Pieds et des mains" endet wie "La Journée d'une paire de jambes" mit dem Anblick der Gesichter der Figuren und überführt seine - zumindest ansatzweise - abstrakte Geschichte auf eine individuellere Ebene, was natürlich den radikal avantgardistischen Ansatz gehörig abmildert, zugleich aber sehr zärtlich anmutet: die sympathischen Gesichter, die erst einander, anschließend das Publikum anblicken, während zwischen ihnen das gemeinsam gezeugte Kleinkind zu sehen ist, bringen einem die Charaktere freilich näher, als jede der vorherigen Einstellungen es zu tun vermochte. In dieser Zärtlichkeit ist der Schluss auch weit glücklicher als der zotige Schluss in "La Journée d'une paire de jambes"; beiden Schlusseinstellungen ist jedoch gemeinsam, dass man sich zwangsläufig die Frage stellen muss, ob & in welchem Ausmaß & wieso man Verhaltensweisen und Taten anders beurteilt, sobald man sie mit einem Gesicht in Verbindung bringen kann - eine Eigenschaft, die beide Filme nochmals wertvoller werden lässt.
Verglichen mit den Avantgardefilmen der 20er Jahre sind diese Titel (allen voran Abel Gances Kurzfilm) allesamt noch mehr oder weniger stark dem Spielfilm verhaftet, insofern keiner von ihnen auf eine Handlung verzichtet. "La Folie du Docteur Tube" und "Des Pieds et des mains" setzen allerdings ihre Form in einen engen Bezug zur Handlung: bei Gance löst das Handeln der Hauptfigur erst die optischen Täuschungen aus, in denen sich dem Publikum und den Figuren selbst die weitere Handlung darbietet, in "Des Pieds et des mains" konzentriert sich der Film auf jene Körperteile, über die sich die männliche Hauptfigur angesichts seiner Begehrten explizit äußert. Trotz des Rufes, den Gances Film besitzt, ist Ravels Film dennoch der reifere: während sich Gance auf seine verzerrenden Linsen in einigen wenigen - wenngleich langen - Einstellungen verlässt, ist Ravel bemüht, mit Feyders Unterstützung in jeder Einstellung über unkonventionelle Großaufnahmen zu arbeiten, die ohne verbindende, erklärende Totalen oder Halbtotalen auskommen müssen; und während Gance mit seinen Spielszenen noch den frühen Komödien der 1890er und 1900er Jahre verhaftet ist (die in den 1910ern längst schon als überholt gegolten haben), konzentriert sich Ravel auf ein Spiel, das nur noch in den Händen und Füßen Platz findet. Die reine Form ohne inhaltliche Gewichtung ist jedoch in beiden Filmen noch fern und sollte sich erst in den 1920ern im Avantgardefilm etablieren.[3]
7,5/10 für "La Journée d'une paire de jambes", 8,5/10 für "Des Pieds et des mains", 7,5/10 für "La Folie du Docteur Tube".
1.) Dass der Film sich in Overacting ergeht, liegt freilich nicht am Hauptdarsteller Albert Dieudonné, der Jahre später weit subtiler den Napoleon für Gance geben sollte, sondern ist ganz eindeutig Bestandteil des körperbetonten Humors, der den damaligen Konventionen folgte und später von den Meistern des Slapsticks gehörig verfeinert werden sollten.
2.) Die gelegentlich ungünstig gewählten Einstellungsgrößen bilden mit einer vereinzelt ungeschickten Ausleuchtung die einzigen, zudem rar gesäten Schnitzer des Films, der diese Mängel durch seine Liebe zum Detail und seine unkonventionelle Gestaltung mühelos ausgleicht.
3.) "Effets sur le mer" (1906) von Alice Guy kam dem schon sehr nahe: aber auch dieser hervorragende Kurzfilm folgte zum einem der Konvention früher dokumentarischer Filme und verfolgte zum anderen (zwar keine Handlung, aber) ein fest umrissendes, einzelnes Motiv.