Wenn das Detail die Vision übertrumpft
Kyros II. erobert das antike Babylon; Jesus von Nazareth wird verraten und gekreuzigt; König Karl IX. beschliesst im Frankreich des 16. Jahrhunderts die Verfolgung der Hugenotten; und ein junges Paar im modernen Amerika wird Opfer des ungerechten Justizapparats. Vier Handlungsebenen, drei Stunden, ein Mammutprojekt – das ist der Film Intolerance von David Wark Griffith, der 1916 Premiere feierte.
David Wark Griffith ist ein kontroverser Regisseur. Sein Stummfilm The Birth of a Nation (1915) erschloss damals neue Gefilde in der Filmtechnik, hat aber eine rechtsradikale Schlagseite. Da ist sein Nachfolgewerk Intolerance wesentlich verdaulicher. Intolerance ist ein grossspuriger Thesenfilm, dessen Inhalt sich schon an der Titelei ablesen lässt. Es geht um Love's Struggle Throughout the Ages, also um das Ringen der Liebe gegen die Intoleranz; ein Kampf, der angeblich seit Jahrtausenden bestritten werde. Nach den Rassismus von vor einem Jahr nun also Pseudo-Pazifismus. Das überzeugt nur bedingt. Letztlich scheint Griffith jedes Thema recht zu sein.
Immerhin mangelt es Griffith nicht an Selbstvertrauen, spannt er doch einen riesigen Zeitbogen auf und verpflichtet eine stolze Schauspielerriege. (Ich zähle 36 Darsteller, die unzählbaren Statisten exklusive.) Die Spannungskurve leidet mitunter an den überladenen Handlungssträngen, zumal sie nicht alle nötig sind. Die Geschichte um Jesus ist eher Hintergrundrauschen, liefert manchmal eine bedeutungsschwangere Allegorie, damit hat sich's dann aber auch. Und die Geschichte um Karl IX. bleibt völlig blass, hat nichts Essentielles zu den Hauptmotiven des Filmes beizutragen.
Bleiben also die zeitgenössische Geschichte um eine junge US-amerikanische Frau und die Geschichte um den Fall Babylons. Beide Segmente sind herausragend, atemberaubend. Das sind sie nicht ihres Inhalts wegen – die Intention des Filmes ist schnell durchschaut, die Botschaft von Griffith ist so abstrakt wie platt. Das wundert nicht, ist sie doch mit der grössten Kelle aller Zeiten angerührt. Ja, es gibt Ungerechtigkeit auf der Welt. Ja, die Liebe hat es schwer. Das wussten wir alles schon vorher. Auch die Parallelisierung der Handlungsebenen ist nur selten erhellend.
Technik und Ästhetik sind es, die in diesem Film bestechen. Der Babylon-Teil punktet mit purem Bombast. Griffith bewegt die Kamera durch ein gigantisches Set. Es gibt Massenszenen, so weit das Auge reicht. Feierlichkeiten sind ausschweifend grell dargestellt, das Harem des Königs erscheint düster und intim. Und die Schlachten sind grosses Kino, da rollen erbarmungslos Köpfe. Griffith beherrscht diverse Stil- und Gefühlsebenen.
Besonders deutlich wird das im zeitgenössischen Teil, der von allen Geschichten am ausgefeiltesten ist. Erstaunlich, wie es Griffith hier gelingt, die Innensicht seiner Hauptfiguren mit filmischen Mitteln darzustellen. Etwa dann, wenn er die trauernde Mutter (gespielt von einer jungen Mae Marsh) vor dunklen Holzmöbeln abbildet, die ihr helles Haar beinahe ersticken. Erbarmungswürdig klein erscheint Marshs Gesicht am unteren Bildrand, die dominierenden Balken der Möbel weisen auf die dunklen Sorgen der Protagonistin hin.
Direkter, aber nicht weniger effektiv ist die Aufnahme der Schauspielerin Miriam Cooper, wie ihr eine einsame Träne über die Wange kullert – grandios ausgelichtet. Wunderbar die Einstellung, bei der Marsh immer näher zur Kamera rückt und sich dabei visuell auflöst. Das alles ist stilistisch so meisterhaft und detailliert, dass man den hochtrabenden Rahmen mitunter vergisst. Schön ist auch das Bild, das beim Wechsel zwischen den verschiedenen Strängen immer wieder wie ein Merkstein auftaucht: Eine Mutter (Lillian Gish), die ihr Kind in einer Wiege schaukelt. Ein Symbol des Schicksals, das vielleicht etwas zu oft auftaucht.
Griffiths Schnitttechnik ist bemerkenswert. Manchmal unterbricht er Texttafeln mit Bildern, die symbolisch für einzelne Wörter einstehen. Die finale Verfolgungsjagd in der Neuzeit ist spektakulär. Der flotte Schnitt hält bei Stange, da fiebert man bis zur allerletzten Sekunde mit. Sicherlich wäre es auch lohnenswert, das Frauenbild in Intolerance genauer unter die Lupe zu nehmen. Griffith speist uns mit einigen schlimmen Vorurteilen ab, aber das „Bergmädchen“ aus dem Babylon-Teil ist eine frühe weibliche Heldin, die selbstständig für einen Mann kämpft, der ihr unerreichbar bleiben muss.
In diesem Werk sind zwei gegenläufige Tendenzen am Werk. Einerseits greift Griffith nach den grossen Symbolen. Dabei gehen die einzelnen Figuren im Räderwerk des Schicksals fast unter. (Das zeigt sich daran, dass das Skript einzig historischen Persönlichkeiten einen Namen gönnt. Gewöhnliche Figuren müssen sich mit Bezeichnungen wie „The Dear One“ oder „The Mountain Girl“ begnügen.) Andererseits sind Einzelszenen verblüffend individuell. Sie brechen aus dem allumspannenden Schema aus, was wohltuend ist – und dem Film letztlich seinen besonderen Charakter verleiht.
Intolerance hat seinen Platz in der Filmgeschichte verdient. Der Plot ist überanstrengt pompös, aber die filmische Vision besticht – im Grossen wie im Kleinen. Gerade was die individuellen Details betrifft, hat Griffith Einzigartiges geleistet. An diesen reichhaltigen drei Stunden Film kommt kein Fan des Mediums vorbei, auch wenn sie alles andere als makellos sind.
8/10