Review

Ein Meisterwerk der subtilen Erotik


(Die folgende Rezension enthält leichte Spoiler.)


Im Amerika der Fünfzigerjahre: Zwei Frauen treffen sich zufällig in einem Einkaufszentrum. Therese Belivet ist eine schüchterne Verkäuferin, die davon träumt, Photographin zu werden. Carol Aird, die Mutter eines kleinen Mädchens namens Rindy, steht kurz vor der Scheidung. Die ungleichen Frauen verlieben sich ineinander und beschliessen, mit dem Auto durch Amerika zu reisen. Dabei kommen sie sich körperlich immer näher. Was sie nicht ahnen: Ihre Intimitäten könnten ernsthafte Auswirkungen auf Carols Scheidung haben. Carol wird sich entscheiden müssen: Entweder gibt sie ihre gleichgeschlechtliche Liebe auf und lässt sich „therapieren“; oder sie verzichtet zugunsten Thereses auf das Sorgerecht für Rindy …


1952 erschien Patricia Highsmiths Roman The Price of Salt, der von einem lesbischen Liebespaar handelte. Da die Verleger sich um Highsmiths Ruf sorgten – zwei Jahre früher hatte ihr Debütroman Strangers on a Train wie eine Bombe eingeschlagen –, musste sie ihr zweites Prosawerk unter Pseudonym veröffentlichen. Das tat dem Publikumserfolg keinen Abbruch: die Leserschaft verschlang das Buch begierig. The Price of Salt war damals der erste Roman, der sich ernsthaft mit der weiblichen Homosexualität auseinandersetzte, ohne schmierig oder überdramatisch zu sein. Er erzählte die erste wahrhaft erotische Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen.[1] Über sechzig Jahre später wagt sich Todd Haynes an den Stoff heran – und schafft es virtuos, die geschmackvolle Erotik der Vorlage einzufangen. Tatsächlich ist die Romanverfilmung Carol ein Meisterwerk der sexuellen Spannung: ein feinfühliges, sehnsuchtsvolles Stück Kino.


Haynes taucht das Manhattan der Fünfziger in eine elegante Noir-Atmosphäre. Die Damen rauchen, Taxis wälzen sich durch den Regen, die Stimmung ist zumeist düster und bedrückt. Es liegt nahe, den Film Noir zu zitieren; lieferte Highsmith doch Vorlagen für einige Klassiker des Genres, am wichtigsten wahrscheinlich der Roman Strangers on a Train, der 1951 von Alfred Hitchcock verfilmt wurde. Haynes belässt es aber nicht bei diesem Zitat; er schafft es zudem, die poetischen und kunstvollen Züge der Vorlage nachzuzeichnen. Etwa dann, wenn Therese ihre geliebte Carol aus der Entfernung photographiert. Oder dann, wenn das Paar mit dem Auto durch einen Tunnel fährt, das Bild verschwimmt und in ein träumerisches Spiel von Lichtreflektionen übergeht. Das herausragendste Merkmal des Filmes besteht allerdings in der mikroskopischen Genauigkeit, mit der die kleinsten Gesten eingefangen werden. Jeder Blick, jede Berührung, jeder Schritt erscheint tausendfach vergrössert. Haynes’ Auge für die subtilsten Körpersignale macht einen Grossteil der Erotik aus. Man merkt: Es geht hier nicht nur um platonische Liebe. Es geht auch um das sexuelle Verlangen zwischen zwei Menschen, die sich einander (zuweilen quälend) langsam nähern.


Das alles würde natürlich nicht funktionieren, hätte Haynes nicht die Unterstützung zweier grandioser Hauptdarstellerinnen. Cate Blanchett (Lord of the Rings, Blue Jasmine) in der Rolle der Carol ist perfekt als noble, unnahbare Dame. Ihre Trauer und Verlorenheit ist stets hinter der kühlen Maske erkennbar. Die wirkliche Offenbarung ist aber Rooney Mara (The Girl with the Dragon Tattoo, Her) als Therese. Ihre Präsenz in diesem Film ist unbeschreiblich. Sie beherrscht die ganze Klaviatur der Femme fragile: verletzlich, intelligent, melancholisch, hintersinnig. Highsmiths Roman The Price of Salt ist auch eine Coming of Age-Geschichte: Sie beschreibt, wie Therese erwachsen und erst dadurch zu einer gleichberechtigten Partnerin für Carol wird. Mara erzählt diese Geschichte allein durch ihr Schauspiel; in den letzten Szenen des Filmes erkennt man problemlos, dass Therese gereift und gefestigt ist – das ist richtig gutes Schauspiel. Auch die Chemie zwischen Blanchett und Mara ist unvergleichlich; ihr Spiel mit den Gesten und Blicken ist exquisit.


Die Stärken des Films werden in einer kurzen Szene besonders deutlich. Carol hat alle Verbindungen zu Therese getrennt. Therese versucht nun, sie telefonisch zu erreichen. Sie steht im dunklen Gang ihres Apartments, den Hörer unsicher umklammernd. Die Kamera ist ganz nahe an ihrem Gesicht. „Hallo?“, fragt Therese. Dann Schnitt zu Carole, in einem etwas helleren, kargen Zimmer. Carole blinzelt und legt den Zeigefinger an ihren Mund. Ihre Lippen zucken leicht. Sie sagt nichts. Dann Schnitt zu Carols Telefon. Ihr Zeigefinger liegt nun auf dem Aufhängeknopf. Ihre Hand zittert. Schliesslich drückt Carol auf den Knopf. Schnitt zu Therese. Sie schliesst die Augen und seufzt. Das Telefon surrt. „Ich vermisse dich“, flüstert Therese. Und dann noch einmal: „Ich vermisse dich.“ Sie hängt auf. Das Kleingeld im Telefon klappert. Schnitt zu Carol. Sie sinkt auf ihr Bett und fasst sich an den Kopf. Die Intimität allein dieser Szene ist hypnotisierend.


Haynes versteht es, den ersten Kuss zwischen Carol und Therese bis zum letzten Moment hinaus zu zögern; so lange, bis die Spannung fast unerträglich ist. Die Entladung der Lust ist entsprechend kathartisch, ohne übertrieben oder geschmacklos zu sein. Höhepunkt ist eine wunderbar sinnliche Sexszene. Hoch anrechnen muss man dem Drehbuch, dass es die Homosexualität der beiden Protagonistinnen niemals voyeuristisch ausschlachtet. Es geht gar nicht darum, dass die Liebenden Frauen sind. Es geht darum, dass ihre Liebe das Sorgerecht Carols beeinträchtigen könnte. Das Dilemma zwischen Mutter- und Partnerschaftsliebe hätte auch ohne Homosexualität seine Geltung. Carol und Therese werden vom Film nicht primär wie zwei Frauen behandelt, sondern wie zwei Menschen – ihre Tragödie ist persönlich, nicht politisch. Haynes verzichtet denn auch (weitestgehend) auf moralische Botschaften unter der Fahne der sexuellen Freiheit, anders als etwa Tom Hoopers The Danish Girl (2015) – ein Film, der sich mit solchen Plattitüden letztlich ins eigene Fleisch geschnitten hat.


Auf den ersten Blick mag Carol wie ein ermüdend langsamer Film am Rande des Kitsches wirken. Aber das ist er nicht: Er ist voll von zarten Andeutungen, ehrlicher Tragik und feinsinniger Erotik. Die Spannungen dieses Filmes sind zartgliedrig; man muss sich auf sie einlassen. Wenn man es tut, findet man in Carol ein erlesenes Liebesdrama von seltener Intensität.


10/10


[1] McDermid, Val (2010): „Foreword“. In: Highsmith, Patricia: The Price of Salt. London: Bloomsbury, S. vf.

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