Ein kleiner, definierender Filmmoment dieses Jahrzehnts
"Tangerine" ist zwar kein Regiedebüt, fühlt sich jedoch genau so an: voller Energie, Ideen, Mut - und das trotz minimalen Budget, auf einem gepimpten iPhone 5S gedreht! Und doch ist die Geschichte über zwei transsexuelle Prostituierte an einem abenteuerlichen Heiligabend in L.A. kein bisschen Apple-Gimmick-Film, kein bisschen Werbefilm, kein bisschen Hollywood. Eher die raue, dreckige Seite der Stadt der Engel, gleichzeitig die menschliche, traurige & verletzliche Seite der Traumfabrik, der USA & sogar der westlichen Welt. "Tangerine" ist ein einmaliger Feel-Good-Film, wo Altmann auf YouTube auf Screwball-Comedy trifft, & wo am Ende ein kraftvoller Film über viele Facetten des Lebens herauskommt. Ein Film, über den wir auch im nächsten Jahrzehnt noch sprechen werden - als einen der wichtigsten & den Zeitgeist am besten einfangenden Film der 2010er.
Trotz innovativer, günstiger Drehtechnik, ist das mutige Werk nicht hässlich. Eher so hässlich & kantig, bunt & dreckig zugleich, dass er wieder wunderhübsch ist. Ein Film über Vorurteile, den täglichen Kampf mit dem Leben, über Freundschaft & Rückschläge, über Lachen in traurigen Momenten & andersrum. Kurz: über das Mensch sein. Und dabei oft zum Schreien komisch, am Zahn der Zeit & mit einem unvergesslichen Finale in einem Donut Shop. Eine weitere Ode an Los Angeles, jedoch die realste & greifbarste, unmittelbarste & andersartigste des Jahres. Das menschliche, alles andere als leere Gegenstück zum neonfarbenen Dämon. Und dabei so voller Vorurteile & typischer Trans-Motive, dass es schon wieder kaum welche sind: einfach echt & eine wahre Ermutigung zum Glück, egal wie das für jeden Einzelnen aussehen soll.
Trotz zickiger, oft fluchender & manchmal schlicht arschiger Protagonisten, gibt es keine einzige unsympathische Figur im Film. Am allerwenigsten die zwei umwerfenden Damen an vorderste Straßenstrich-Front, deren Chemie & Starappeal überquillt & sich auf den Zuschauer überträgt. Dazu ein mitreißendes Tempo, ein pulsierender Soundtrack & eine unverschämt witzige, authentische Ghetto-Art, dass man das Kino & die Geschichte kaum verlassen will. Bessere Laune hatte ich dieses Jahr, außer vielleicht nach "Sing Street", nach keinem anderen Kinobesuch. Anti-Hollywood, Pro-Außenseiter, Pro-Gleichheit. Make Peace Not War - solche Filme braucht es momentan ganz besonders. Nicht plakativ, sondern notwendig. Der benötigte Schuss in den Arm von Amerikas Indie-Filmszene - ein kleiner Film, mit riesiger Wirkung. Auf die Welt wäre der Idealfall.
Fazit: nicht weniger als ein brückenschlagendes Indie-Meisterwerk & kommender Transgender-Kultfilm - der (melancholische) Spaß des Sommers & ein absolutes Energiebündel! Weit mehr als nur "der Film, der auf einem iPhone gedreht wurde"!