Dario Argentos Debütfilm "L'uccello dalle piume di cristallo" (übersetzt: "Der Vogel mit dem Kristallgefieder") gehört zu den stilbildenden Gialli und lieferte nach Mario Bavas "La ragazza che sapeva troppo" ("The girl who knew too much") und "Sei donne per l'assassino" ("Blutige Seide") sowie "Blow up" von Michelangelo Antonioni und "Peeping Tom" ("Augen der Angst") von Michael Powell einen Thriller, der verschiedene genredefinierende Handlungs- und Stilemente in einer Form kombinierte, die nicht nur für seine eigenen Filme, sondern auch für die Gialli anderer Regisseure eine wirkmächtige Vorlage lieferte. Ein wichtiger Bestandteil war dabei das Mordmotiv. Während bei Bavas "Blutige Seide" Egoismus und Gier zum Mord antrieben, trat bei Argento die traumatisierende Kindheits- oder Jugenderfahrung an deren Stelle. Gegenüber dem pessimistischen, bisweilen zynischen Blick Bavas auf seine Figuren, der sich in "Reazione a catena" ("Bay of blood") noch verschärfte, erscheint Argentos Ansatz humanistischer. Vereinfachend kann man gegenüber Bavas Welt voller Täter bei Argento eher von einer Welt voller Opfer sprechen, zu denen bisweilen aufgrund seiner Traumatisierung auch der Mörder zählt. Das ebenfalls neue Grundmotiv eines Künstlers, der ein Verbrechen miterlebt und sich später an ein entscheidendes Detail nicht mehr erinnern kann, sollte Argento in seinen Filmen "Profondo Rosso" und "Non ho sonno" ("Sleepless") wieder aufgreifen. Dass sowohl der Täter als auch die Hauptfigur, die ihn sucht, immer wieder das gleiche Gemälde anstarren, lässt ihre Ziele und Obsessionen ansatzweise miteinander verschmelzen.
Doch dieses Motiv ist für Argento mehr als ein bloßer Handlungs-Aufhänger: "Wir erinnern uns an das, was wir behalten wollen - oder was uns unsere Kultur behalten lassen will", sagt er in einem Interview. Und das Erlebnis eines Mordanschlags, den der amerikanische Autor Sam Dalmas (Tony Musante) bei einem Rom-Aufenthalt miterlebt, enthält etwas, das seinen hergebrachten Vorstellungen nicht entspricht und deshalb von seinem Gedächtnis isoliert wird. Bei dieser Schlüsselszene zeigt Argento eine Gestaltungskraft, die wohl kaum ein Regisseur bei seinem ersten Film und die meisten wohl in ihrer ganzen Laufbahn nicht erreichen. Gefangen zwischen zwei elektrisch betriebenen Panoramafensterscheiben, erlebt Sam, wie die verletzte Monica Ranieri (Eva Renzi) blutend in einem mit grotesken Monsterskulpturen bestückten Atelier umherkriecht. Die vollständig weiße Kleidung Monicas bildet dabei einen nicht unwichtigen symbolischen Aspekt, dessen Tragweite jedoch erst die Auflösung deutlich macht. Gezwungen zuzuschauen, unfähig einzugreifen - das Dilemma Sams, nicht zuletzt auch die Lage des Zuschauers reflektierend, ist eine in Argentos Filmen häufig wiederkehrende Situation, die in "Opera" ihre grausigste Umsetzung findet - mit Nadeln unter den Augenlidern wird eine junge Sängerin gezwungen, sich die Morde ihres Verfolgers anzusehen.
Wir meinen zu wissen, dass es die Tat eines schon vorher präsentierten Mannes mit schwarzem Mantel und Hut sowie schwarzen Handschuhen war. Letztere, schon z.B. in "Blutige Seide" zu sehen, etablierten sich nicht nur zum Markenzeichen der Giallo-Mörder, sondern wurden auch für den deutschen Titel "Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe" herangezogen, unter dem Argentos Film als "Bryan-Edgar-Wallace-Verfilmung" dem deutschen Publikum präsentiert wurde - dabei spielte der Film im Gegensatz zu anderen italienischen "Wallace-Filmen" nicht einmal in England, was vorher unerlässlich war. Statt von Edgar Wallaces Sohn Bryan Edgar war der Film von Fredric Browns Roman "Screaming Mimi" inspiriert. An die Edgar-Wallace-Filmreihe erinnert in diesem Film vor allem Werner Peters, der aufgrund seiner Statur häufig die Rollen abgebrühter bulliger Kleingangster gespielt hatte. Im Rahmen des Argento'schen Filmschaffens eröffnet er - in der Rolle eines hilfsbereiten Antiquars - die Reihe mehr oder weniger eindeutig homosexueller Figuren, die jedoch trotz gelegentlicher Überzeichnungen nie als Witzfiguren dienten (wie man dies in anderen zeitgenössischen Filmen hätte erwarten können), sondern im Gegenteil meist zu den sympathischsten Figuren gehörten.
Ähnlich wie Argentos zumeist zurückhaltend aufgenommener Historienstreifen "Le cinque giornate" präsentiert "L'uccello" einige skurrile Typen, darunter einen im Gefängnis sitzenden Zuhälter, der Sam weiterhilft und dabei fast jeden Satz mit "addio" beendet, um sein Stottern in den Griff zu bekommen. Bei der Erstellung der deutschen Sprachfassung wurde diese Vorlage natürlich dankbar aufgenommen und noch um einiges überdrehter wiedergegeben. Ein weiterer Informant Sams beantwortet jede Bitte um Auskunft zunächst mit Nein, um ihr im nächsten Satz dann doch unerwartet nachzukommen. Den Höhepunkt des eigenwilligen Humors Argentos bildet jedoch der Maler eines sehr handlungsrelevanten Gemäldes, der als verkommener Einsiedler auf dem Land lebt und ein ganz besonderes Verhältnis zu Katzen pflegt. Gespielt wird der Mann von Mario Adorf, der im italienischen Genrefilm noch des öfteren Gelegenheit hatte, in eigenwilligen Rollen zu glänzen, wie beispielsweise in Fernando di Leos Gangsterfilmen "Milano Kaliber 9" und "La mala ordina" ("Der Mafiaboss").
Eine bei aller Skurrilität überaus düstere Gestalt und eine der unheimlichsten Figuren in Argentos Filmographie wird von Reggie Nalder gespielt, der als drogensüchtiger abgehalfterter Ex-Boxer - und gedungener Mörder - Sam Dalmas eine nächtliche Verfolgung liefert, die über einen Busparkplatz führt, auf dem Sam von seinem Jäger ein nervenzerreißendes Versteckspiel aufgezwungen wird. Diese außergewöhnlich virtuos choreografierte Szene, ein Juwel im Filmschaffen Argentos, belegt, dass Argento nicht nur bei Mordszenen - wie oft oberflächlich festgehalten wird - eine neue kreative Zugangsweise fand, sondern auch Verfolgungen wie kein zweiter zu inszenieren wusste. Die schon an sich beunruhigende Erscheinung Nalders, der auch als Hexenjäger Albino in "Hexen bis aufs Blut gequält" ("Mark of the Devil") beeindruckte, spielt bei der Wirkung dieser Szene keine unbeträchtliche Rolle.
Ein Aspekt, der für den Giallo kennzeichnend wie kein zweiter ist und doch kaum je Erwähnung findet, ist die mehrschichtige Erzählweise, die (insbesondere in Argentos Filmen) neben der konventionellen Handlungsdarstellung ein mal mehr, mal weniger dichtes Netz von Symbolen mit Bezug zur Haupthandlung konstruiert, was meist schon mit den oft auf den ersten Blick überfrachtet und kryptisch wirkenden Titeln beginnt. Der titelgebende "Vogel mit dem Kristallgefieder" taucht gegen Ende des Films tatsächlich auf, ist aber nur für wenige Sekunden zu sehen. Es wird erwähnt, wie scheu und empfindlich der Vogel sei, und welch ein Wunder, dass er überhaupt im römischen Zoo zu überleben vermöge. Der Gedanke liegt nahe, dass dies auf die Psyche der Person, die anhand des Vogels gesucht wird, schließen lässt - die in ihrer Empfindsamkeit einem traumatischen Erlebnis nicht standhalten konnte. Auch in Argentos folgenden zwei Filmen sollten jeweils Tiere titelgebend sein. Weiterhin sind die Dämonenskulpturen im Atelier, in dem sich der Mordanschlag zu Beginn ereignet, nicht zufällig dort, sondern symbolisieren die finsteren Gedanken, die den Täter umtreiben. Die Farbe der Kleidung der miteinander kämpfenden Personen sowie die riesigen Glasscheiben, die die paradoxe Situation bewirken, alles zu sehen, aber nichts tun zu können - Argentos Aufbauten sind keine Zeugnisse lustiger 60er-/70er-Verschrobenheit, wie manche Kommentatoren meinen, sondern durchaus sinnerfüllt und aussagekräftig. Auch die Polizeiarbeit, die mit Arbeitsmitteln wie einem heute grotesk wirkenden Riesencomputer ein etwas skurriles Bild abgibt, spiegelt Argentos Detailverliebtheit wider, durch die eine Kleinigkeit wie ein unidentifizierbares Geräusch auf einem Tonband ein faszinierendes Eigenleben entwickelt.
Hauptdarsteller Tony Musante, mit dem Regiedebütant Argento während des Drehs laut eigener Aussage Kompetenzstreitigkeiten bekam, übertrifft dennoch an Mimik und Charisma spielend die Hauptdarsteller der folgenden Filme Argentos, den farblosen James Franciscus sowie Michael Brandon, den als Schauspieler zu bezeichnen ich mich fast schwertue. Während Suzy Kendall und Eva Renzi für mein Empfinden nicht die Ausdruckskraft späterer Argento-Darstellerinnen wie Mimsy Farmer oder Daria Nicolodi erreichen, bietet Enrico Maria Salerno mit seinem nüchtern-pragmatischen Commissario Morosini einen überzeugenden Gegenentwurf zu Musantes impulsivem Autor Sam Dalmas.
Wie in Argentos folgenden beiden Filmen sowie seinen 90er-Projekten "La sindrome di Stendhal" und "Il fantasma dell'opera" ("Das Phantom der Oper") schuf auch hier Ennio Morricone die Filmmusik. Einer kinderliedartigen Melodie, die beispielsweise zu Vor- und Abspann erklingt, stehen in spannungsgeladenen Szenen eingesetzte beunruhigende atonale Klanggemälde gegenüber.
Argentos Debüt bündelt damit diverse Elemente, die sein ganzes Schaffen begleiten sollten, und gehört zu den Höhepunkten des italienischen Kinos Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre.