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Die Frontiergeschichte des Trappers Hugh Glass (im Film: Leonardo DiCaprio) ist wahrlich sozusagen uramerikanischer Stoff. Malerisch, wild, pathetisch und voller Streben nach Gerechtigkeit. Oder Sühne. Im Jahre 1823 nahm der Mann teil an einer Expedition in Richtung des damals noch unerforschten Oberlaufs des Missouri und geriet während des Unternehmens in Auseinandersetzungen mit ihre Jagdgründe verteidigenden Indianern. Auf der Flucht vor dem überlegenen Feind trennte sich die Gruppe, wobei ein Teil auf einem Boot den Fluss hinab fuhr und ein anderer Teil den Weg über Land nahm. Während des Marsches überraschte der Waldläufer ein paar Grizzlybären Jungtiere, was für jeden nur halbwegs mit der Wildnis vertrauten Menschen augenblicklich die Alarmglocken klingeln lässt. So geschehen wahrscheinlich auch beim echten Hugh Glass. Geholfen hat es ihm jedenfalls nicht, denn das Muttertier griff den unglücklichen Fallensteller an und richtete ihn in der Folge übel zu. Gewahr der schweren Wunden ihres Kameraden, entschied sich die Gruppe, zwei Wachen bei Glass zu lassen, die bei ihm bleiben würden, bis er gestorben wäre. Da sich jedoch wider Erwarten dessen Tod in die Länge zog, entschieden sich die zwei ehemaligen Gefährten, den Schwerstverletzten seinem Schicksal in der Wildnis zu überlassen und zogen unter Bruch ihres gegeben Versprechens gen Zivilisation den anderen hinterher. Glass‘ Waffen im Gepäck. Die würde der im Sterben liegende Mann ohnehin nicht mehr brauchen...

Doch wer die Entschlossenheit des gemeinen Amerikaners unterschätzt - davon kann noch bisher jeder Gröfaz ein Lied singen -, der hat ein Problem. So auch der Bad Guy der wahren wie filmischen Geschichte, Thomas Fitzpatrick (Tom Hardy). Der zieht sich verständlicherweise den Hass des nicht tot zu kriegenden Glass zu, was für ihn im Film selbstredend böse ausgeht, im wahren Leben jedoch weniger dramatisch endete. Der Brite Tom Hardy verleiht dem treulosen Unsympathen eine abstoßende Gleichgültigkeit, die nicht nur bei seinen Wegbegleitern, sondern auch beim Zuschauer das Messer in der Tasche aufgehen lässt. Das, sowie Leonardo DiCaprios wirklich meisterhaftes Spiel, verleihen dem in pittoreske Bilder gegossenen Film einen veritablen Unterhaltungsfaktor. Doch gewinnt dieses ungewöhnliche Werk noch aus einer weiteren Quelle wesentliche Schauwerte. Aus der durch die Aufnahmen wabernden, urtümlichen, beinahe selbstverständlich kompromisslosen Gewalt.

Der Moment, in dem Leonardo DiCaprio von einem dressierten Grizzlybären angefallen wird, dürfte ein Stück weit Filmgeschichte schreiben, denn die Bilder, mit denen Alejandro González Iñárritu („Babel", 2006, „Birdman", 2014) die Szene einfängt, sind fast ein wenig beunruhigend nah und eindringlich. Natürlich fehlen auch die standesgemäßen Unappetitlichkeiten des Nahkampfs zwischen Weiß und Rot nicht, die hier von beiden Seiten in epischer Breite zelebriert werden und die den auf Wirklichkeitsnähe setzenden Visagisten und Maskenbildnern am Set sicherlich einige Kopfzerbrechen bereitet haben. Ebenso real war wohl der Ekel, den DiCaprio verspürte, als er in echte Bison-Leber biss, damit der Funke auch ganz gewiss zum Zuschauer überspringt. Ob man es mit so viel Detailverliebtheit nicht ein wenig übertreibt, mag dahingestellt sein. Schön ist jedenfalls, dass sich die Indianerstämme inzwischen in Hollywood wieder da versammeln, wo sie historisch hingehören und nicht wie einst, in den Zeiten John Waynes, hemdsärmelig in der Gegend herum verpflanzt werden. Was bitte bliebe im Hinblick auf so viel Herzblut beim schon krankhaft authentischen aktuellen Oscarkandidaten des Regisseurs Iñárritu da noch zu nörgeln? Dass das europäische Wildschwein, das im Film durch South-Dakota streift, im Jahre 1823 in jenen Gefilden eigentlich noch Zukunftsmusik war (Es war nämlich erst kurz zuvor von den europäischen Einwanderern über den Atlantik gebracht worden. Das amerikanische Wildschwein jener Tage wäre richtigerweise das kleinere Nabelschwein oder Pekari gewesen)? Wohl kaum, denn dem Mann war es ansonsten beeindruckend ernst mit dem Zeitkolorit. Und das verdient Beifall. Außerdem wird - zugegeben - das Pekari den meisten Zuschauern herzlich egal sein. Vermutlich kratzt es nicht einmal die Verwechselten selbst. Schwein gehabt.

Auch dramaturgisch, und das darf, je nach Sichtweise, positiv oder negativ auffallen, werden hier im wahrsten Sinne des Wortes Berge versetzt. So gibt es im Film sogar einen halbindianischen Sohn von Glass, der vom bösen Fitzpatrick vor den Augen des hilflosen Vaters ermordet wird. Dieser barbarische Akt lässt den unstillbaren Rachedurst und die übermenschliche Anstrengung des Protagonisten von der Story her überhaupt erst plausibel erscheinen. Außerdem robbt der eigentlich dem Tod Überantwortete nicht durch das relativ wegsame Land entlang des Missouri in South-Dakota - wie damals in Wirklichkeit -, sondern kämpft sich durch die viel weiter westlich gelegenen Rocky Mountains. Dabei treibt der in Fetzen gerissene, fiebrige Trapper samt Kleidung gelegentlich im eiskalten Fluss, stopft sich ein Loch im Hals mit entzündetem Schießpulver und rettet im Vorbeigehen einem Indianermädchen die Würde und das Leben. Allein der Bericht von einem Kerl, der sich schwer verletzt 360 Kilometer zur Zivilisation durchschlägt und von einem treulosen Ex-Kameraden als Wiedergutmachung die einst geklaute Flinte zurückbekommt, lockt eben doch noch nicht ausreichend Filmfreunde ins Kino. Da muss, will man Kohle machen, einfach mehr her.

Schön, wenn auch gewohnt, ist die politisch korrekte Behandlung der Indianer. Die Weißen sind die Rüpel, die Wilden die Gelackmeierten. Doch so platt das klingt, so wahr ist das eigentlich. Wer kennt schon bei all den fiktionalen Pocahontassen der Populärunterhaltung Dee Browns begrabenes Herz am Fluss („Bury My Heart at Wounded Knee")? Jeder, der den bekannten Bestseller über das Leid der Indianer auch nur kurz anliest, begreift, dass es durchaus seine Berechtigung hat, von Zeit zu Zeit an das den amerikanischen Ureinwohnern zugefügte Leid zu erinnern. Auch im Kino. Denn beim üblichen moralischen Rundumschlag in der Politik wird es nur zu gern vergessen. Nach heutigem Vokabular würde man hier, und das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen oder in den Kontext setzen, von Völkermord sprechen.

Wenn überhaupt stößt die leichte Überlänge des Films auf. Wenn Leonardo DiCaprio zitternd über den fünfhundertsten Stein stolpert, dann hatten wir eigentlich auch schon beim vierhundertsten kapiert, dass es ihm nicht gut geht. Das große Plus von „The Revenant" bleibt zwar seine nachdrückliche Drastik, doch hätte die auch in fünfzehn Minuten weniger Krabbelei Platz gehabt. Auch die Tagträume von seiner verstorbenen Frau und die dauernden Visionen von Büffelschädelhaufen bremsen die Geschichte eher aus, als dass sie sie voranbrächten oder gar intensivierten. Dennoch hat Alejandro González Iñárritu mit „The Revenant" seinen bisher besten Film inszeniert, der den theatralischen „Babel", aber auch den reizvoll subtilen, wenn auch etwas unausgegorenen „Birdman" auf ihre jeweiligen Plätze verweist. Visuell wie darstellerisch ist dieser Racheakt ein Gemälde. Zwar etwas ausladend. Aber einladend.

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