Alberto Cavallone hat mit Blue Movie einen meiner absoluten Lieblingsfilme realisiert und auch sein Vorgängerwerk Spell hat nichts anderes verdient als die Höchstwertung.
Die Handlung spielt sich an zwei Tagen in einem italienischen Provinzdorf ab, wo ein traditionelles Fest zu Ehren des Dorfpatrons abgehalten wird. Am ersten Abend erhellt ein pompöses Feuerwerk den Himmel. Es wird getanzt und getrunken. Die gesamte Bevölkerung kommt zu, teilweise ziemlich albernen, Gewinnspielen zusammen, die man eher auf einem Kindergeburtstag erwarten würde. Eine Jazzkapelle musiziert und ein Moderator verkündet die Gewinner von Preisausschreiben, deren Hauptgewinn unter anderem aus einem Farbfernseher besteht. In diesen Rahmen bettet Cavallone mehrere fragmentarische Episoden, die die Schicksale verschiedener Bewohner des Dorfes behandeln. Jede der unterschiedlichen Figuren hat mit einer eigenen Obsession zu kämpfen, mit dem Schicksal, in einer Welt zu leben, in der nichts mehr eine Bedeutung zu haben scheint, und unfähig dazu zu sein, auf die Bedeutungslosigkeit zu reagieren und mehr zu tun als sich hilflos in sie zu ergeben.
Ein marxistischer Photograph, dessen Frau offenbar dem Wahnsinn verfallen ist, ihre Mahlzeiten im Badezimmer einnimmt und aus der Toilettenschlüssel trinkt, schneidet anatomische Studien aus medizinischen Lehrbüchern, verbindet sie mit den hübschen Körpern von Models in Modemagazinen zu Collagen und zerbricht sich den Kopf über der Frage, was wichtiger sei, die Realität oder ihr Abbild, und kommt zu dem Schluss, dass die Menschheit vielleicht alle ihre Normen und Werte die Toilette hinunterspülen sollte, um sie durch neue zu ersetzen: durch Verspieltheit und Phantasie. Ein junger Fleischer mustert die Mädchen des Dorfs, die sich für das Fest herausgeputzt haben, und zieht sich danach zu seinen aufgehängten Rinderkadavern zurück, um sich an ihnen sexuell abzureagieren. Eine Frau leidet unter dem Trunkenbold, zu dem ihr Mann geworden ist, vermisst Wärme und Liebe, und zerschmeißt in einer Szene, in der ihre Verzweiflung in Wut umschlägt, einen Stapel Geschirr. Ein junges Mädchen erleidet auf dem Fest einen Ohnmachtsanfall und der Arzt stellt fest, dass sie ein Kind erwartet. Geschwängert wurde sie von ihrem eigenen Vater, neben dem offenen Sarg, in dem die Leiche ihres Großvaters aufbewahrt war. Ihre Mutter beschließt, dass das Mädchen in ein Kloster gesteckt werden soll. Vor der Dorfgemeinschaft mimt sie gemeinsam mit ihrem Gatten das glückliche Ehepaar. Verbunden werden diese Bruchstücke durch einen Fremden, der im Dorf erscheint, ein junger Mann, der auf Bänken übernachtet, und sich nicht nur mit den Kindern des Ortes anfreundet, die ihn zu ihrem Held erklären, sondern sich ebenso in mehrere sexuelle Abenteuer verstrickt. Überhaupt hat Sex in Spell einen hohen Stellenwert. Sei es, dass Cavallone in wenigen surrealen Traumsequenzen die sexuellen Gelüste der jeweiligen Figuren veranschaulicht, dass ständig Pornocomics, pornographische Gemälde (unter anderem von Courbet) oder eben nackte Körper in Anatomiebüchern in den Fokus gerückt werden, oder das Vorhandensein von nicht wenigen recht graphischen Sexszenen, die die Grenze zum Hardcore allerdings nie überschreiten, und von denen die meisten außerordentlich erotisch inszeniert wurden.
Eine Handlung im konventionellen Sinn sucht man vergebens. Der Film wirkt eher wie ein Mosaik, dessen Einzelteile sich nicht immer zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen. Schon hier, wenn auch nicht annähernd so radikal wie in Blue Movie, lässt Cavallone Kritiksalven auf sämtliche seiner Feindbilder los. Vor allem Kirche und Konsumgesellschaft widmet er sich ausgiebig, jedoch in verschlüsselter, verklausulierter Form. Spell ist angefüllt mit Symbolen und Metaphern. Im Gegensatz zu der Welt, in der der Film spielt, haben die Dinge für Cavallone ihre Bedeutung (noch) nicht verloren. Stattdessen spielt er sie vollends aus, es wimmelt von bedeutungsschwangeren Aufnahmen. Trotz allem fand ich den Film außerordentlich unterhaltsam, rasant und lebendig, was vor allem der Montage zu verdanken ist, für die Cavallone selbst zuständig war. Teilweise ist es unglaublich, wie er die einzelnen Bilder verbindet. Beleuchtung, Schauspieler, Kameraführung und Musik, die unter anderem aus einer Jazzversion von Griegs In der Halle des Bergkönigs besteht, kann ich ebenfalls nicht genug loben.
Zum Ende gibt es dann zwei Szenen, die in ihrer Drastik locker mit Blue Movie mithalten können. Zu der einen hat Cavallone sich augenscheinlich von Georges Bataille inspiriert lassen, die andere stellt wahrscheinlich eine der derbsten filmischen Mordszenen dar, die ich jemals gesehen habe. Mit Blue Movie hat Spell zudem gemein, dass der Schluss alles, was zuvor geschah, über den Haufen wirft und einen zwingt, den Film und vor allem die Rolle des namenlosen Fremden in einem ganz neuen Licht zu betrachten.
Insgesamt ist Spell leichter zugänglich, verständlicher als Blue Movie, was Mainstream-Fans wohl dennoch nicht davon abhalten wird, ihn spätestens nach den ersten fünf Minuten frustriert auszuschalten. Für mich ist er einer der besten Filme, die in den 70ern gedreht wurden, und ein weiterer Beweis dafür, dass Alberto Cavallone zu den wichtigsten Regisseuren gehört, die damals in Italien tätig waren.