Review

Narben die uns zeichnen

"Manchester By The Sea" katapultiert Ben Afflecks kleinen Bruder Casey endgültig ins Rampenlicht, outet Regisseur Kenneth Lonergan zweifellos als dramaturgischen Meister & ist glasklar einer der cineastischen & emotionalen Höhepunkte des Kinojahres. Kein einfacher Film, keine leichte Kost & nicht ohne Längen - doch ein Gefühlswirbelsturm, den man, trotz seiner immer durchschimmernden Trauer & Wut, nicht missen will. Ein schauspielerischer Gourmethappen, ein erzählerischer Geniestreich & ein so grundehrliches Statement, wie man es aus Hollywood nur ganz selten sieht. Die erste Produktion eines Streaming-Anbieters (Amazon), die für den Besten-Film-Oscar nominiert ist - zu recht! Doch das ist bei weitem nicht das Einzige, was an "Manchester By The Sea" historisch ist. Ein Film wie eine tiefe Narbe auf der Seele des Kinofans - je nachdem wie sehr einem die Verbindung zum Hauptcharakter gelingt, eine sehr tiefe & ein unvergessliches Erlebnis. 

Wie sagte Deadpool letztes Jahr so passend - das Leben ist eine Aneinanderreihung von Katastrophen mit werbespotmässigen Unterbrechungen der Glückseligkeit. Das gilt so ähnlich auch für "Manchester By The Sea". Es geht um einen ziemlich mürrischen & niedergeschlagenen Schweiger, der nach dem Tod seines Bruders der Vormund von dessen Teenager-Sohn werden soll. Doch Schatten, Last & Trauer aus der Vergangenheit scheinen ihn nicht loszulassen... Mit fast zweieinhalb Stunden nimmt sich der Film seine Zeit, verliert sich hier & da auch mal in Details, baut clevere erzählerische Schachteln ein. Geduld & Empathie sollten also beim Zuschauer durchaus vorhanden sein. Doch gerade Leute mit viel von Letzterem, könnten den Film bzw. den Tipp ihn zu gucken, sogar etwas verfluchen. Denn er hat wahrhaft erschütternde, traurige & tränenreiche Seiten. Immer wieder scheinen Sonnenstrahlen durch, er wird nie kitschig oder melancholisch, ganz im Gegenteil. Doch er zeigt ein paar Schicksalsschläge & deren Folgen, die schwer wie Blei liegen. Gerade für Eltern harte Kost & eine Warnung: Taschentücherpackungen bereit halten & im Kino vielleicht etwas nach außen setzen ;). 

Casey Affleck muss nächsten Monat den Oscar gewinnen, was er hier zeigt rüttelt auf & ohne viele Worte spürt man seinen Schmerz. Bedacht, ehrlich, pur. Gegen Ende gibt es ein wortkarges & überemotionales "Gespräch" mit seiner Ex-Frau im Film, fast noch genialer von Michelle Williams verkörpert, das man nie mehr vergisst. Subtil & so unfassbar schmerzhaft wird hier gezeigt, dass das Leben Dinge passieren lassen kann, die man nie überwindet. Nie. Es gibt Besserung & es muss weitergehen, doch Happy Ends, Hollywood oder Heilung, sieht anders aus. Manche Narben bleiben nicht nur, verändern nicht nur alles, sie tun auch weh. Höllisch. Strahlend. Für immer. Das klingt extrem düster & nimmt einen mit, ist realistisch & einfühlsam, doch nicht vergessen: das ist halt das Leben im schlimmsten Fall. Inklusive Witze in unangebrachten Situationen oder neuen Wegen. Die Balance zwischen todtraurigem Drama & lockereren Momenten hält Lonergans Taschentuchzerstörer überraschend gut. Doch das Ereignis in der Mitte des Films strahlte auf mich so sehr aus, wie auch auf alle Figuren des Films & alle Mitgucker im Kino, dass kaum bis gar nicht mehr darüber geredet wird & der Schmerz zu groß für Worte erscheint. Im Film wie in dieser Kritik. Heftig.

Fazit: eines der tieftraurigsten & ehrlichsten Dramen des Jahrzehnts - doch die durchscheinenden Sonnenstrahlen machen den Film besonders wertvoll. Vor allem ab einer gewissen Lebensphase schmerzhaft, ohne einen jedoch zu einseitig gen Boden zu drücken. Ruhiges Gefühlschaos, volle Breitseite Leben. Ein starkes Schauspiel!

Details
Ähnliche Filme