In Island ticken die Uhren ein bisschen anders. Und das nicht, weil die dreihundertzwanzigtausend Einwohner des Landes zwei Stunden später Silvester feiern als wir, sondern weil das Völkchen ehemaliger Wikinger ein Leben in unaufgeregter Abgeschiedenheit fristet. Außerhalb der Hauptstadt Reykjavík lässt man sich Zeit. Und da die dem Sprichwort nach Geld ist, führt das Land (nach Finnland) die Rangliste der sichersten europäischen Länder an. Denn geklaut wird wenig. Und gemordet (eigentlich) schon gar nicht. Man mag es nicht glauben, aber es gibt tatsächlich keinen auf Strafrecht spezialisierten Anwalt auf der Insel vor Grönland. Geschehen tatsächlich Kapitalverbrechen, werden die etwa von Juristen des Zivilrechts beinahe fachfremd übernommen. Doch so märchenhaft das alles klingt, nicht nur unlängst in der Zeitung haben wir mitbekommen, dass sogar Mädchenmörder auf Island ihr Unwesen treiben, auch Regisseur Baltasar Kormákur („Everest", 2015) trägt die Gewalt in seine Heimat. Dazu gönnt er sich eine kleine Hollywood-Pause.
Finnur ist Arzt und Profi in seinem Metier. Er leitet und überwacht als Chirurg Notoperationen, bedient endoskopische und minimalinvasive Apparaturen und rettet tagtäglich Leben. Doch als es um das Leben seiner Tochter geht, muss sich entscheiden, ob er auch im Privaten einen kühlen Kopf behalten kann. Das Mädchen hat nämlich ihr Studium abgebrochen, um mit einem gewalttätigen Drogendealer (Gísli Örn Garðarsson) anzubandeln. Sie entgleitet dem Zugriff der Eltern und ist im Begriff, ihr Leben für einen Mann in den Müll zu werfen, der ihr keine Zukunft bieten kann. In ihrer jugendlichen Naivität mag sie das nicht erkennen - ihr Vater aber versteht das umso besser. Doch was kann ein konfliktscheuer, liberaler Mann in so einem Fall schon tun, wenn sich zudem der Gang zur Polizei als wenig hilfreich erweist? Nun, er ist Arzt. Und ein Mediziner ist nie um Ideen verlegen.
Ohne die wunderschöne Landschaft Islands gebührend in Szene zu setzen, orchestriert Kormákur, der hier auch die Hauptrolle übernimmt, einen solchermaßen realistischen Thriller, dass das Zusehen beinahe unangenehm wird. Maßgeblich trägt dazu bei, dass das Profil des kriminellen Freundes der Tochter, seine Beweggründe und Handlungsmuster, gänzlich nachvollziehbar, plausibel entworfen und dem wahren Leben entrissen sein könnten. Und so ist es für den toll spielenden Gísli Örn Garðarsson ein Leichtes uns zu überzeugen, Finnurs Weg zur Lösung des Problems seiner Tochter mehr als nur ein Stück weit mitzugehen. Schön und erfrischend hierbei übrigens, dass die sich bald stellende Frage nach der Moral nicht, wie meist in Deutschland, Zeigefinger wedelnd vorgekaut wird, damit sie vom Ballaststoff gequälten Wohlstandsbürger leichter zu verdauen ist, sondern es dem mündigen Zuschauer überlassen bleibt, inwiefern und ab welchem Zeitpunkt er mit dem Gedanken spielt, seine Sympathien zu überdenken.
Die Fahrt, die „Der Eid" („The Oath") von Beginn an aufnimmt, wird weder verlangsamt von überflüssiger Fracht und nebensächlichem Beiwerk, noch getrübt von entfremdender Formelhaftigkeit. Dramaturgisch nimmt sich Baltasar Kormákur, der hier erstaunlich wenig Interesse zeigt, sein Land ein wenig vorzustellen, keinerlei Auszeit. Sein Fokus liegt auf der sich immer weiter zuspitzenden Bredouille des Protagonisten und nicht auf Blicke fangenden Wasserfällen oder Touristen umwuselten Geysiren (Einzig das auffällig in die Story platzierte Hobby Finnurs, sein Rennradfahren, bietet ein paar Vogelblicke auf die vulkangeformte, bizarre Landschaft des südlichen Island). Und es ist eine veritable Leistung des Regisseurs und Drehbuchautors, die vollkommen verfahrene, aussichtlose Situation, die sich am Ende der Geschichte dem Familienvater stellt, mit einem Kniff elegant aufzulösen und für den Zuschauer einleuchtend zu Ende zu erzählen.
„Der Eid" ist ein empfehlenswerter Thriller, der mit wenig bundesdeutscher Moral, dafür aber mit einem routinierten Gespür für spannende Unterhaltung überzeugt. Zu mehr als dem reicht es aber, und auch das muss gesagt sein, nicht. Zwar spielt auch Hera Hilmar als Töchterchen toll auf, doch bleibt etwa die Lebensabschnittsgefährtin Finnurs auf ihre Statistenrolle reduziert und kann auch Baltasar Kormákur besser inszenieren als selber spielen. Amerikanischer Hochglanz geht diesem ambitionierten europäischen Filmprodukt ohnehin ab. Doch nicht nur mit Blick auf die Alltagstauglichkeit des Stoffs ist das vielleicht auch gar nicht so sehr zu beklagen.