Review

Ich möchte diese Kritik damit anfangen, dass ich zugebe, dass ich durchaus glaube, dass OJ Simpson die Morde begangen hat. Dies ist ein wichtiger Baustein für den folgenden Verriss einer weltweit anerkannten und hoch dekorierten Dokumentation, wie ich es im Vorfeld nicht für möglich gehalten hätte.

Die Dokumentation Made in America verfolgt das Leben von OJ Simpson von seiner Geburt bis zum heutigen Tag, parrallel dazu wird die Geschichte des Rassismus gegenüber den Schwarzen in den USA erzählt sowie der Bürgerrechtsbewegung.
Im Grunde genommen kann man daraus ein wirklich episches Meisterwerk machen. Die meisten Rezensenten sehen auch genau dies in diesem Machwerk von Doku. So hat die Doku nach wie vor eine Wertung von 96 Punkten auf Metacritic, was so ziemlich das Beste ist, was es geben kann. So hat die Doku beispielsweise den Oscar als beste Doku gewonnen sowie unzählige weitere Preise.

In den ersten beiden Folgen wird minutiös OJ's Leben nachgezeichnet bis kurz vor den Morden. Während OJ aus absolut ärmlichsten Verhältnissen zum absoluten Superstar aufsteigt, und in der weißen Elite von Beverly Hills als so ziemlich einziger Afroamerikaner absolute Narrenfreiheit besitzt, und sich seit jahrzehnten strikt weigert, sich für die schwarze Bürgerrechtsbewegung einzusetzen, eskaliert die Spannung zwischen der schwarzen und der weißen Bevölkerung (in diesem Fall der weiße Polizeiapparat) zusehends bis zum vorläufigen Siedepunkt als mehrere Polizisten trotz auf Video gebannter Polizeigewalt gegen Rodney King freikommen und die USA in Flammen stehen. Polizeischikane gegen die ärmliche schwarze Bevölkerung steht auf der Tagesordnung und wird von oben gebilligt. OJ Simpson weigert sich in den 60ern Farbe zu bekennen, später meint er, dass er sich nie instrumentalisieren lassen wollte und dadurch alles hart erarbeitete wieder verlieren. Für jemanden, der es aus ärmsten Verhältnissen schafft, ist dies eine nachvollziehbare Entscheidung. Und tatsächlich gelingt es ihm augenscheinlich, seine Farbe zu transzendieren, so dass sein Satz "Ich bin nicht schwarz, ich bn OJ." zumindest so lange alles gut läuft, auch funktioniert.
Was die Dokumentation nun in diesen drei Stunden allerdings über OJ Preis gibt, sind lediglich, dass er ein Arsch war, weil er sich nicht als schwarz ansah. Dies wird mit dem Holzhammer immer und immer wieder in kleinen Episoden von dubiosen Weggefährten und immer noch armen entfernten Verwandten erzählt in unendlichen Variationen: OJ haute Kommilitonen in die Pfanne, spannte seinem besten Freund die Frau aus, ergriff nicht für eine Gruppe Schwarzer Partei, als diese als "Nigger" beschimpft wurden usw.
Wirklich einschneidende Erlebnisse seines Lebens, wie er zum Beispiel als erster Schwarzer es dank eines Sportstipendiums auf eine weiße Eliteuni schaffte, wie es um ihn stand, als seine Tochter ertrank, warum und wie er sich von seiner ersten Frau trennte? Fehlanzeige. Stattdessen wird das öffentliche Bild eine Gockels diffamiert. und immer die gleichen komischen Leute, die was dazu sagen, um ihn noch schlechter dastehen zu lassen, als er es ohnehin schon stand. Es kommt nicht von ungefähr, dass kein wirkliches Familienmitglied oder er selbst interviewt werden. In späteren Folgen wird sich dieses Muster wiederholen.
Dann kommt endlich Nicole Brown ins Spiel und wieder das gleiche Spiel: OJ als gewalttätiger Schläger ohne Hintergrund oder Motiv. Und wenn ein Motiv angedeutet wird, dann solche Westentaschenpsychologie wie, sein Vater war homosexuell.
Es wird nicht näher drauf eingegangen, dass es anscheinend eine ganz schön kranke Beziehung gewesen sein muss, wenn er sie schon zum ersten Date fast vergewaltigt hat und es ihr anscheinend gefiel. Es wird nicht darauf eingegangen, dass OJ die ganze Familie von Nicole Brown aushalten musste, und ihre familie ihr immer wieder eintrichterten, es wäre sein gutes Recht so mit ihr zu verfahren, nur damit es der Familie weiterhin gut geht. Es wird nicht darauf eingegangen, dass beide einander betrogen, sie sogar, um ihn zu demütigen mit seinem Zögling. Es wird nicht darauf eingegangen, dass beide eine anscheinend kranke Hassliebe pflegten. Es wird nicht darauf eingegangen, dass Sie alle männlichen Alphatiere um OJ herum un den Finger wickelte, und auch nicht darauf, dass OJ von einem Alphamännchen immer mehr zu einem perversen Spanner degradiert wurde. Wer hier wen wie genau fertig machte, wird gar nicht versucht überhaupt mal anzusprechen. Nicht falsch verstehen, OJ hat seine Frau mehr als nur einmal fast tot geprügelt und dafür gibt es keine Entschuldigung, aber bei fast 8 Stunden Spielzeit, und davon alleine fast 90 Minuten nur für die Beziehung der beiden, so gar keine Anhaltspunkte zu bekommen, sondern immer nur die gleichen Opferbilder zu sehen, und immer diabloischere OJ Simpson Geschichten zu hören, ist so einseitig wie es nur geht. Ein inhaltlicher Mehrwert ausser OJ zu verteufeln ist nicht vorhanden.

Damit kommen wir zum Mord und dem Prozess, welches über 3,5 Std einnimmt. Und ich wiederhole mich hier: Ich glaube, dass OJ Simpson schuldig ist. Aber was die Doku hier abzieht, ist manipultaiv ohne Ende, und das auf einer derart subtilen Ebene, dass man diese Doku durchaus als Anschauungsunterricht für künftige Propagandafilmer werten kann.
OJ Simpson wird dafür verteufelt, dass er sich mit den besten für Geld kaufbaren anwälten zudeckt. Dafür muss er auch im Gefängnis Geld verdienen, also schreibt er tagaus tagein Autogramme und verkauft diese. Dies wird verteufelt. Der Mann kämpft um sein Überleben und achtet darauf wie er und die Anwälte auf die Kameras wirken. Dafür wird er verteufelt. Jeder der etwas zu sagen hat, ist entweder davon überzeugt OJ sei der Täter oder es sind alte Weggefährten, mit denen er es sich mittlerweile verkracht hat und die ihm anscheinend mittlerweile arg gesonnen sind. Keine einzige vernünftige Stimme kommt zu Wort. Mark Furhrmann, der Polizist, dessen Karriere damals zerstört wurde, weil er offensichtlich ein übler Rassist war, kommt  extrem häufig zu Wort und wird rehabilitiert, einen besseren Kommentator als ihn gibt es nicht in der Doku. Die damalige Staatsanwältin sprüht noch heute vor Hass. Fast alle kommen zu Wort, nur vom schwarzen "Alibistaatsanwalt" hört man keine aktuellen Kommentare - wohl wahrscheinlich weil er zu objektiv an die Sache gegangen wäre.
Noch einmal, der Fall ist ein Jahrhundertfall, der so viele Wendungen hat, dasss es auf kaum eine Seifenoperkuhhaut passt. OJ Simpson, der Zeit seines Lebens nichts mit dem Rassenthema zu tun haben wollte, und sein Anwaltsteam stürzen sich auf das Rassenthema, weil es ihre einzige Überlebensmöglichkeit ist. Die Staatsanwaltschaft schafft es nicht, diesen wasserdichten Prozess einfach zuzumachen. Und es ist nunmal so: Im Zweifel für den Angeklagten! Fast überall in der freien Welt. Und es gibt nunmal hier und da einige Zweifel, und da ist der Freispruch nunmal die logische Folge. Dass neun der Geschworenen Schwarze aus ärmlichen Verhältnissen sind, hat die Staatsanwaltschaft mit zu verantworten.
Wie es dazu kommen kann, dass das Urteil für die schwarze Bevölkerung wie eine Rache für die jahrhundertelange Ungleichbehandlung ausgerechnet bei OJ Simpsons Prozess wirkt, ist das eigentlich Kuriose an diesem Megafall. Gerade für dieses Urteil OJ Simpson verantwortlich machen zu wollen, und es ihm für den Rest seines Lebens übel zu nehmen, ist eigentlich ein weiteres wahres Verbrechen des weißen Amerika, und die Chance, die diese Doku einfach nicht ergreift. Und dafür gibt es nun den Verriß.

Die letzte halbe Stunde zeigt bruchstückhaft OJ Simpsons sozialen Abstieg bis zu einem völlig überzogenen Urteil, welches ihn letztendlich doch für den rest seines Lebens hinter Gitter bringt. Und der Gerechtigkeit ist Genüge getan?
Erneut kommen immer wieder irgendwelche komischen Gestalten zu Wort, die OJ zu Fall gebracht haben und soufflieren uns, dass OJ die Morde zugegeben hat. Wie gesagt, ich glaube auch an seine Schuld, aber die Glaubwürdigkeit dieser Leute ist objektiv betrachtet gleich Null.
Aber was besonders bitter ist, es wird nicht aufgezeigt, dass OJ in den zwanzig folgenden Jahren zu einem Getriebenen und Vertriebenen wurde, der urplötzlich immer häufiger Polzeiwillkür ausgesetzt war (so gab es in seinem haus immer wieder Drogenrazzien, ohne dass was sichergestellt werden konnte). Solche Sachen verschweigt die Doku. So wurde er überall wo er hinwollte, ausgesperrt und in die schwarze Gemeinde zurück gedrängt, und selbst da aus politischem Kalkül irgendwann verbannt. Wie es nun mal für verzweifelte Ex-Promis üblich ist, vermisste er die Gunst seiner Fans und rutschte immer tiefer in halbseidene Gefilde ab. Dass dies ein Wechselspiel der amerikanischen weißen Ressentiments und dem verzweifelten "Ich bin doch OJ, ihr müßt mich lieben!" und eine Abwärtsspirale ohne Aussicht auf Happy End war, wurde spätestens mit seinen immer dümmer werdenden Entscheidungen, wie etwa dem geschmacklosen Buch "If I Did it" immer klarer.
Hier hätte diese fast 8 Stunden lange Doku wirklich investigativen Journalismus aufbringen können, anstatt immer wieder dem Vater des Getöteten die Bühne zu überlassen. Auch wie OJ schließlich zu Fall gebracht wird und für 33 Jahre ins Gefängnis kommt, ist nicht nur mehr als dubios, sondern im Grunde genommen eine perfide Falle, die sich ironischerweise durch seine Fanartikel begründet. Hier war mit Sicherheit mehr Polizeiarbeit hinter den Kulissen und Rechtsbeugung vorhanden, als es die Doku nicht mal ansatzweise andeutet.

Sicher, er hat die Morde wahrscheinlich begangen, und es war möglicherweise sehr ungerecht, dass er davon kam. Aber so war nun mal das Gesetz und die Staatsanwaltschaft und Polizei, sowie ein unfähiger Richter haben ihr Bestes dafür mit beigetragen, dass das Dream Team mit der Rassistenkarte für erhebliche Zweifel sorgen konnte. Dennoch war OJ fortan ein Geächteter, der sich irgendwann der Rolle fügte und alles verlor, inklusive seiner Familie und sich nur noch an den vergangenen Ruhm klammerte. Und dies wurde ihm schließlich zum Verhängnis, als man ihm eine extrem unverhältnissmäßige Strafe aufbrummte, die quasi als spätes recht angesehen wird.
Das ist nicht Gerechtigkeit, das ist ein weißer Apparat, der sich langsam und lange rächt.
Und der vorliegende Dokumentarfilm unterstützt die Sichtweise des weissen Amerika aufs stärkste, aber aus einem völlig anderen Motiv: Der Regisseur, ein Sohn von Bürgerrechtsbeweglern der ersten Stunde, verzeiht es OJ Simpson offensichtlich nicht, dass dieser nichts für die Bürgerrechtsbewegung getan hat, sondern diese nur für sich instrumentalisiert, um frei zu kommen. Dabei verschliesst er die Augen vor der Tatsache, dass OJ im gegensatz zu seinen Eltern nicht aus einem behüteten Haus kommt, sich alles hart erarbeitet, und womöglich Angst hat, wieder dort zu landen, wo er schließlich zwangsläufig landet.

Ganz ganz üble moralinverseuchte scheinheilige heuchlerische Dokumentation der übelsten Sorte, mit mehreren ganz krassen Ungleichgewichten, sowhl in den themenfeldern als auch in den interviewten Personen, welche vor allem, nach meiner Erfahrung, auch hier in Deutschland bei den "Weißen" sehr gut ankommt, weil OJ seine "gerechte" Strafe bekommt.

2016 gab es im Übrigen eine weitere Miniserie, die den Fall OJ Simpson verfilmte mit solch illustren Namen wie Cuba Gooding Jr. und John Travolta. Jene Serie wirkte auf mich auf dem ersten Blick wie eine seichte Seifenoper, aber sie verstand es von der ersten Minute ambivalent zu bleiben, und alle wichtigen Themen gleichwertig anzuschneiden, ohne moralinverseucht wie diese Doku daherzukommen. Alle, die sich für dieses Thema interessieren, würde ich eher auf "American Crime Story. The People v OJ Simpson" verweisen, als auf dieses Machwerk hier.

Selten habe ich mich so auf eine Dokumentation gefreut und selten war ich am Ende so verärgert über so dreiste manipulationsversuche: 3 Punkte

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