Aamir Khan und seine Ressentiments gegen die einstigen Kolonialherren, die nächste Runde. Nach Lagaan, Aufstand der Helden, Die Farbe des Safran macht er sich erneut daran, es allen aus dem ehemaligen Commonwealth zu zeigen. Aber in diesem Fall ist das nur die Hintergrundgeschichte, die nebenher daherkommt, um den Nationalstolz des Publikums im entscheidenden Moment einzufordern, was auch zu höherer Popularität am Box-Office führen soll. Und natürlich funktioniert dies so ähnlich wie die Klingel beim Pavlov'schen Hund.
Khan spielt einen ehemaligen Landesmeister im Ringen, der aus finanziellen Gründen niemals international antreten konnte und seinen Traum mit seinem Sohn erreichen will. Nur hat der gute Mann nur Töchter. Das ist, typisch Dorf-Inder (wird einem so suggeriert), natürlich nicht gut genug und er ist niedergeschlagen, weil er keinen Sohn hat und verliert jeglichen Lebensmut. Als er dann mitbekommt, dass seine Töchter tatsächlich recht schlagkräftig sind, entscheidet er sich - entgegen den Gepflogenheiten auf dem indischen Land - sie zu Ringerinnen zu machen. Hierfür geht er sehr rabiat vor und beraubt seine Kinder jeglicher Kindheit. Er ist so egozentrisch und darauf fokussiert, dass seine Töchter international Gold holen, dass er jegliche Schikane einsetzt. Als seine ältere Tochter dann schließlich ins Nationalteam aufgenommen wird und einen anderen Trainer bekommt, und sieht, dass es auch anders gehen kann, kommt es zu einem extrem aufgeladenen Bruch. Aber das ist erst die erste Hälfte des Films.
Junge, Junge: Dangal ist aus westlicher Sicht auf so vielen verschiedenen Ebenen einfach nur ein falscher Film, dass es fast unmöglich ist, eine richtige Liste abzuarbeiten, aber versuchen wir es mal:1. Der Protagonist ist ein extrem ehrgeiziger Mann, der sich nur durch seine Kinder einen eigenen Wunsch erfüllen möchte, dafür opfert mal so einfach seine Kinder im Vorbeigehen. daran ändert sich im Prinzip den ganzen Film über nichts.
2. Er hat zwei Töchter, die er trainiert, aber in der zweiten Hälfte geht es nur noch um die ältere, und die zweite Tochter fällt einfach mal in die zweite Reihe ab. das ist ein eigentlich nicht tolerierbares Ungleichgewicht.3. Er hat einen Neffen, den er als Sparringspartner für seine Töchter mißbraucht und der sein ganzes Leben nur noch danach richtet, aber immer wie ein Haustier nebenher brav herläuft. Dass dieser Mensch evtl. auch hätte eine andere Chance verdient hätte, wird einfach mal so unter den Teppich gekehrt.
4.Als es darum geht, dass der Nationaltrainer andere Ideen hat als der Vater, kommt der Film eigentlich nie auf die Idee, dass es vielleicht möglich wäre, einen Mittelweg zu gehen. Stattdessen verfällt der Film in altindische Muster zurück, dass wenn ein Mädchen dem lockeren Leben verfällt, sie auch irgendwann zu schwach und moralisch bankrott wird.5. Am Schlimmsten wiegt aber das Heuchlerische, dass der Vater der Mädels die Mädels davor bewahrt, als Kinder verheiratet zu werden und das Schicksal vieler unterdrückter Frauen zu teilen. Er wird regelrecht als Vorreiter der Frauenrechtsbewegung hingestellt. Das mag ein netter Nebeneffekt seines grenzenlosen Egoismus sein, aber war nie auch nur tatsächlich sein Ziel.
6. Diese Liste liesse sich beliebig fortführen, aber diese Beispiele sollten eigentlich ausreichen zu zeigen, wohin die Reise gehtDennoch gelingt es dem Film, in Indien zu einem der erfolgreichsten Filme aller Zeiten aufzusteigen, und das aus wahrscheinlich gutem Grund, als da wären:
1. Wahrscheinlich ist die Herangehensweise an die Charaktere (leider) sehr realistisch, denn was juckt einen Kleinstadtinder aus der hintersten Provinz, dessen einziges Talent das Ringen war, und der auch nach seiner Karriere als Ringer nur für das Ringen lebt, die Frauenrechtsbewegung. Wenn er seine Chance sieht, geht er rücksichgtslos vor, um sein Ziel endlich zu erreichen.2. Der unbedingte Siegeswille, den er seinen Töchtern einimpft, und sei es mit sehr fragwürdigen Methoden, erlaubt es ihnen tatsächlich zu Siegern zu werden.
3. Tatsächlich kann es sogar sein, dass der Mann irgendwann merkt, wofür seine Töchter da schließlich in dieser Gesellschaft da stehen, und instrumentalisiert das dann auch für sich, aber es ihn dann so explizit aussprechen zu lassen, fühlt sich dennoch irgendwie falsch an.4. Der Vater-Tochter-Konflikt mit dem sehr ausgeprägten Vaterkomplex der Töchter ist zum einen sehr realistisch. Genauso realistisch, dass Eltern in jeglicher Zivilisation irgendwann die Kindheit ihrer Kinder für die eigenen Ziele unterordnen und sich selbst einreden, sie würden das alles für die Kinder tun. Und zum anderen auch sehr spannend anzusehen, wenn Vater und Tochter sich auf Augenhöhe begegnen.
5. Schließlich die Dramaturgie: Aamir Khan hat ja schon in Lagaan bewiesen, dass er Sport-Events perfekt inszeniert bekommt, aber hier wird am Ende eine Dramaturgie aufgefahren, die sich vor keiner Spitzenproduktion verstecken braucht - auch mit der Bestrafung des Vaters, welche irgendwie gerecht ist aber dann auch wieder nicht.Alles in allem ist Dangal trotz der oben angesprochenen Kritikpunkte ein extrem spannender Familienfilm, der die ganze Zeit über ambivalent gegenüber seiner Hauptfigur bleibt, und das ist auch gut so, denn auch wenn der Kerl ein Arsch vor dem Herren ist, so tut er seinen Töchtern unbewusst dennoch einen Gefallen, und dadurch auch als Film glaubwürdig bleibt.
Der Film wird sicherlich in Indien mit zur Diskussion beigetragen haben, die Rolle der Frau in der Gesellschaft nicht nur als Heimchen oder Sexobjekt anzusehen, sondern als vollkommen vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Das ist ein immer wichtiger werdender Punkt in Indien und verdient auch den nötigen Rahmen. Und wenn solch ein Film wie Dangal dies auch mit bewerkstelligen kann, dann umso besser.Für indische Filmverhältnisse sicherlich 9 Punkte, für hiesige Verhältnisse sicherlich 7 Punkte. Obwohl er das möglicherweise nicht verdient aus neutralen Gesichtspunkten, vergeb ich mal einen Mittelwert, denn man sollte auch immer mit in die Bewertung eingehen lassen, woher die Filme stammen und was sie kulturell dort bewegen: 8 Punkte.