>> Spoiler-FREI bis zum Hinweis <<
Schon die ersten Film-Sekunden saugen einen regelrecht in den Film hinein. Die straff inszenierte Story ist um so bedrückender, da sie auf tatsächliche Begebenheiten beruht, welche in diesem Film ohne wesentliche Änderungen dargestellt werden. Es handelt sich aber keinesfalls um eine nachgespielte Dokumentation, sondern um einen dokumentierenden Spielfilm.
Um den Film zu verstehen ist es nicht einmal notwendig auch nur irgend etwas von der brasilianischen Kultur zu kennen oder zu verstehen. Es ist vielmehr so, das die im Film geschilderte Situation eigentlich auf jede Zivilisation aller Himmelsrichtungen in (fast) gleicher oder (stark) abgewandelter Form übertragen werden kann. - Auch auf uns in Deutschland.
Die Handlung dreht sich dabei um die jugendlichen Bewohner der Cidade de Deus, einer Trabantenstadt von Rio de Janeiro, welche für das Flüchtlingsaufkommen aus den ländlichen Regionen aufgrund einer Dürre in den 60er-Jahren "aus dem Boden gestampft" wurde. Doch naturgemäß (wie man heute weiß) mutiert ein solches Ballungsgebiet aus der Retorte schnell zum Ghetto mit krimineller Einflussnahme.
Der Film beginnt (nach einer kurzen einleitenden Szene, die chronologisch kurz vor dem Ende ihren Platz hat) in diesen 60er-Jahren und beschäftigt sich hauptsächlich mit der "Evolution" der Gewalt. Was mit "lächerlich" wirkenden Überfällen kleiner "Gangs" beginnt, steigert sich zu drogenhandelnden Banden, welche sich aufgrund von "Absatzmärkten" zunehmend rivalisieren und später mit schweren Waffenarsenalen blutige Kriege um das Monopol liefern. Das die korrupte Polizei dabei Nutznießer ist, wird nicht verheimlicht.
Negativ fiel mir nur eine Sache auf: Der Drogenkonsum. Damit meine ich hauptsächlich, das auch in der "VW-Käfer"- oder "Buscapé-vs-Marina"-Szene hemmungslos gekifft wird, obwohl man schon lange begriffen hat, worum es geht. Nur um noch mal aufs deutlichste zu zeigen: das machen Alle, quer durch alle Schichten der Gesellschaft.
Es ist unter Umständen etwas schwer, insbesondere die in untergeordneten Rollen befindliche Charaktere zu unterscheiden, welche aufgrund des Tempos, der hohen Anzahl und den ungewohnten Namen zu Beginn auf einen niederprasseln; da nützen einem die anfänglichen Standbilder mit direkter Vorstellung von Personen nur wenig. Zumindest erging es mir so, da ich mich nebenbei auch gerne an der Szenerie ergötze, sodass vor allem in der 60er-Jahre-Sequenz hier und da mal ein Detail übersehen werden kann. Doch das ist zu verschmerzen; die Hauptfiguren können dennoch schnell identifiziert werden, hier sind die "eingedeutschten" Namen (Locke, Karotte, Mané der Stecher etc.) durchaus hilfreich.
Außerdem werden dadurch Wiederholungs-Ansichten nicht langweilig ;-)
Die größtenteils laienhaften Darsteller sind sensationell und agieren authentisch.
Hauptfigur ist der "Fotograf" Buscapé (ALEXANDRE RODRIGUES; deutsch synchronisiert von Xavier Naidoo); er führt auch als Erzähler aus dem Off durch die Handlung. Des weiteren spielen "Locke der Boss" (LEANDRO FIRMINO), dessen Freund und rechte Hand Bené (PHELLIPE HAAGENSEN) sowie die in Brasilien bekannteren Namen MATHEUS NACHTERGAELE (als Karotte) und SEU JORGE (als Mané der Stecher) eine wesentliche Rolle.
Auch dabei ist JONATHAN HAAGENSEN (als Cabeleira in der 60er-Jahre-Sequenz; älterer Bruder von Phellipe Haagensen), der wie DOUGLAS SILVA (als "Löckchen" in der 60er-Jahre-Sequenz) in dem neueren *City of Men* sowie dessen Serien-Fassung vertreten ist.
Neben der beklemmend geschilderten Thematik und den glaubwürdigen Darstellern wird einem zusätzlich noch inszenatorische Qualität vom Feinsten geboten. Das Auge der Kamera befindet sich überall; die Vorgänge werden wechselweise aus Vogel- und/oder Frosch-Perspektive eingefangen, mitunter befindet sie sich mittendrin; für den Zuschauer ein stetiger Wechsel zwischen "beobachten" und "teilhaben".
Das mitunter zuviel Schaukel-, Wackel- + Rüttel-Kamera sowie vereinzelt die zur Produktionszeit aufkommende "Zoom-In-Zoom-Out"-Mode verwendet wird ist reine Geschmackssache; gleiches gilt auch für weitere Gimmicks, wie z.B. hektische Schnitte. Für mich persönlich wurde davon ein wenig zu viel eingebracht. Vielleicht wollte man damit auch nur bewiesen, das auch Jenseits von Hollywood modernes Kino produziert werden kann; in dieser Hinsicht ist es gelungen.
Ob diese technischen "Spielereien" nun bei Tarantino oder Anderen abgeguckt wurden oder nicht, sei einmal dahingestellt; es ist eigentlich mehr als unbedeutend. Wichtig ist nur, ob diese Mischung aus modern-verspielter Filmtechnik mit dem "dokumentarischen" Inhalt funktioniert; oder anders ausgedrückt: ob die inhaltliche Aussage der wahren Geschichte in einem Spielfilm nur als Mittel zum Zweck benutzt wird oder nicht. Meiner Meinung nach ist diese Fusion sehr gut gelungen.
Beeindruckend ist auch die extrem orange-gelbe Farbigkeit, welche die gnadenlose Hitze spüren lässt, gleichzeitig aber auch einen unwirklichen Kontrast zur dargestellten Trostlosigkeit darstellt. Für den gleichen Effekt sorgen zusätzlich die Bilder von Sonnenuntergängen, weißen Stränden und sonstigen "idyllisch" anmutenden Szenerien.
Schon die ersten Film-Sekunden saugen einen regelrecht in den Film hinein.
Und der Sog lässt einen bis zum Ende nicht mehr los. - Das Ende?
Es gibt bei diesem Film eigentlich kein wirkliches Ende. Er hört nach 119 Minuten (netto) einfach auf, nachdem er dem Zuschauer "noch einen mit auf den Weg" gibt.
>> leichter SPOILER <<
Der Tod von Locke ist nur ein vermeintliches Happyend; es ist erst der Beginn. Der Anfang einer neuen Generation. Achtet man auf den Dialog der „Zwergenbande" merkt man, das diese ihr frisch erobertes Revier nach der Exekution des vorherigen "Herrschers" noch härter verteidigen werden. Glasklar ist diese Aussage zu verstehen: die Gewaltspirale kennt nur eine Richtung: sie wird weiter eskalieren. Doch dabei handelt es sich nicht nur um einen dramatisch gelungenen Plot-Twist;....
>> SPOILER Ende <<
...in der Realität steht die „Zwergenbande" Pate für die Verbrecherorganisation Comando Vermelho, die seit den 70er-Jahren auch heute noch als die gefährlichste Gang rund um Rio de Janeiro gilt. Sie ist dafür bekannt, eine Todesliste zu führen, wie es von den Kids erwähnt wird.
Bei der OSCAR-Verteilung hatte dieser Film hauptsächlich gegen *Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs* das Nachsehen. Verdient hätte er diese ebenfalls.
>>> Im Spin-Off/(Fortsetzungs-Film) CITY OF MEN wird mehr auf die Charaktere eingegangen und der Bandenkrieg rückt eher in den Hintergrund bzw. bildet hauptsächlich den Showdown. Er ist also komplett anders aufgebaut worden, ohne dabei an Intensität zu verlieren.
CITY OF MEN hat (bis auf das Thema und ein paar Darsteller) keinen charakterlichen oder situationsbedingten Bezug zu CITY OF GOD. Von daher sind beide unabhängig voneinander und können demnach für sich allein stehend oder in beliebiger Reihenfolge angeschaut werden.
Schulnote: 1 (9/10)