Die ersten Schritte einer Anime-Meisterin
Die japanische Schülerin Shoko Nishimiya kommt in eine neue Klasse. Für sie ist das doppelt schwierig; denn sie ist gehörlos. Obwohl sie sich alle Mühe gibt, sich einzupassen, wird sie zum Mobbing-Opfer. Vor allem der wilde und sorglose Shôya Ishida macht dem zarten Mädchen das Leben schwer. Irgendwann hält es Shoko nicht mehr aus: Sie wechselt die Schule. Die Sache wirft einen dunklen Schatten auf Shôya – obwohl seine Klassenkameraden sein Verhalten duldeten, wollen sie nun plötzlich nichts mehr von ihm wissen. Aus dem heiteren Jungen wird ein schüchterner und deprimierter Mann. Er entschliesst sich dazu, seine Kindheitssünde auszubügeln. Doch das ist einfacher gesagt, als getan.
Es ist lange her, seit mich ein Anime-Spielfilm wahrhaft berührt hat. Das letzte Mal hat das Hayao Miyazaki mit seinem Meisterwerk Chihiros Reise ins Zauberland (2001) geschafft. Nun zeichnet sich am Horizont ab, wer Miyazakis Rolle als König des Anime ablösen könnte. Und es ist nicht etwa Makoto Shinkai mit seinen auf Hochglanz polierten Spektakel à la Your Name. (2016) und Die Reise nach Agartha (2011). Nein, es ist eine viel unauffälligere Regisseurin, die sich ihre Sporen mit der zuckersüssen Zeichentrickserie K-On! (2009-2010) verdient hat. Die Rede ist von Naoko Yamada, die mit A Silent Voice einen bleibenden Eindruck hinterlässt, der Lust auf mehr macht, auf viel mehr.
Yamada erzählt darin die Geschichte eines jungen suizidgefährdeten Mannes, der sich nichts sehnlicher wünscht, als Vergebung. Er hat ein junges Mädchen in einen Krise gestürzt und versucht nun, dies wieder gut zu machen – sofern das überhaupt möglich ist. Er nähert sich seinem früheren Opfer Shoko an, um ihre verletzten Gefühle zu heilen. A Silent Voice liefert dabei keine einfachen Antworten. Das Drehbuch vermeidet es konsequent, aus den beiden Hauptfiguren ein plattes Liebespaar zu machen. Als Subtext schwingt diese Ebene zwar mit, wird aber stets aus kritischer Distanz beleuchtet. »Kann sich zwischen den beiden eine Liebschaft, ja überhaupt eine Freundschaft entwickeln?«, ist einer der vielen Fragen, die sich das Publikum stellen kann.
Shôya muss sich darüber hinaus mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass er sich lediglich mit Shoko abgibt, um seinen eigenen Seelenfrieden zu wiederherzustellen, dass es ihm also doch nur um sich selbst geht. Und schliesslich stellt sich die Frage, ob sich Shoko überhaupt jemals von dem erholen kann, was ihr angetan wurde. Schon seit Kindesbeinen wurde sie in die Rolle eines Opfers gedrängt. Sie spielt diese Rolle so überzeugend, dass sie darob beinahe ihre Würde verliert. Hier stellt die Geschichte eine kluge und herausfordernde Frage: Inwiefern ist das Opfer selbst schuld, dass es ein Opfer ist?
Schon an diesem Fragenkatalog merkt man, dass es sich bei A Silent Voice um eine selten reflektierte Coming-of-Age-Story handelt. Dabei ist die Achse zwischen Shoko und Shôya nur eine von vielen Figurenkonstellationen. Insgesamt gibt es mindestens fünf weitere Charaktere, die ebenfalls eine wichtige Rolle in dem Drama spielen. So etwa Shokos Mutter, die sich in der Kunst der Vergebung einüben muss, oder Shokos kleine Schwester, die unter ihrem eigenen Beschützerinstinkt beinahe zerbricht. Der Film ist dialoglastig: Die Akture reden, debattieren und streiten fleissig. Aber natürlich spielt auch die nonverbale Kommunikation eine wichtige Rolle, sorgt für Missverständnisse und Verstrickungen.
Die hervorragende und preisgekrönte Manga-Vorlage aus der Feder von Yoshitoki Ōima hat Yamada da sicherlich in die Hände gespielt. Aber die Regisseurin lässt nicht nur Worte sprechen, sie beweist einen untrüglichen Sinn für Atmosphäre und Charakterzeichnung. Das zeigt sich bereits im Intro, das Shôya zu den Klängen von The Whos My Generation als unbeschwerten Rabauken portraitiert. Die Art, wie die 33-jährige Yamada gezeichnete Gesichter und Körper mit Leben füllt, muss man ihr erst einmal nachmachen. Sie versteht es, selbst aus Aufnahmen vom Knie bis zum Fuss zu ausdrucksstarken Miniatur-Portraits zu machen.
A Silent Voice will zwar keine Moral von der Kanzel herunter predigen, ist aber dennoch ein Film mit aufklärerischem Gestus; ein Film, der uns Menschen als verletzbare, manchmal dämliche und grausame, doch im Kern gute Wesen zeichnet. Der Anime richtet sich gar nicht so sehr gegen das Mobbing; er appelliert viel eher an unser Mitgefühl. Er ermöglicht es uns, in die Haut sowohl von Opfer als auch von Täter zu schlüpfen. Und er lässt uns erkennen, dass beide Rollen vielgestaltig sind. Vor allem aber gewährt uns A Silent Voice Einblick in die Welt der jugendlichen Depression. Yamada geht dieses heikle Thema mit der richtigen Mischung aus Humor und Ernst an. Sie stellt das Verstehen über das Belehren – und das kann man ihr nicht hoch genug anrechnen.
Es ist wie mit allen Filmen, die Herz haben und zeigen: Manch ein Zyniker wird ihn als kitschig verschreien. Und tatsächlich, in einigen Szenen droht Yamada den Bogen zu überspannen, die pastellenen Töne des Abendrots sind zuweilen ein Tick zu viel. Aber das vermag den Gesamteindruck nicht zu trüben. Ich habe es schon einmal geschrieben und schreibe es gerne immer wieder: Die wahrhaft herausragenden Filme sind jene, die den Mut haben, sich verletzbar zu machen. Nur Filme, die Schwäche zeigen, kann man wirklich lieben. Und ja, vielleicht ist es tatsächlich so: Ich liebe A Silent Voice. Schaut ihn euch an, auch wenn euch die süssliche Ästhetik abschreckt. Wenn sie so weiter macht, ist Naoko Yamada auf dem besten Wege, Miyazaki als Anime-Meisterin abzulösen.
10/10