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Seit 1964 dreht Jan Svankmajer animierte Kurzfilme, durch die er einen sehr guten Ruf als Filmemacher bekam. Mit "Alice" drehte Svankmajer seinen ersten, abendfüllenden Spielfilm, basierend auf dem Kinderbuchklassiker "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll. Wer aber in dieser "Real"-Verfilmung jene niedliche, bunte Fröhlichkeit, wie in der Disney-Version von 1951 erwartet, wird aufs Herbste enttäuscht werden: Svankmajers "Alice" ist eine dunkle, kinderunfreundliche Variation des sonst so lebhaften Märchens. Und obwohl im Prolog des Films gesagt wird, dass dies ein Film für Kinder sei, ist "Alice" es definitiv nicht.

Die Titelfigur wird gespielt von der gerade mal sechsjährigen Kristyna Kohoutová, somit ist "Alice" nicht jene gut erzogene, schulisch herangereifte Prepubertäre, wie sie in anderen Verfilmungen dargestellt wird, sondern ein kleines, in sich geschlossenes Mädchen, in dessen Gedankenwelt uns Svankmajer partout nicht hineinlässt. Auch ihr Elternhaus bleibt gesichtslos und undefiniert. So fehlt jene feine, kultivierte Ansicht der Erziehungsberechtigten, und man bekommt eher das Gefühl, diese Alice kommt aus ärmlichen, verkommenen Verhältnissen.

Nicht nur das Mädchen hat Svankmajer variiert, sondern das "Wunderland" an sich. Assoziiert man mit diesem Wunderland meist jenen zauberhaften, farbenfrohen Wald voller lustiger Kreaturen, ist es bei Svankmajer ein riesiges, in sich verwinkeltes Haus, verrottet und vermodert. Jedes Mal, wenn Alice eine Tür überwindet, folgt eine neue Episode in ihren Abenteuern in diesem "Wunderland", jede Episode eigentümlicher als die andere. Bei ihrer Odyssee durch die unwirkliche Welt, hält sich Svankmajer jedoch recht genau an die Geschichte Carrolls. So beginnt ihre Reise damit, dass sie dem Weißen Kaninchen, das in Zeitnot gerät, in jene Welt folgt, und die Geschichte endet mit ihrer drohenden Enthauptung durch die "Königin der Herzen".

Die Bevölkerung des Wunderlands; das Weiße Kaninchen, die Strumpfraupen, der verrückte Hutmacher, wie sie alle heißen; ist komplett animiert. Bis auf die Hauptfigur, also Alice selbst, ist alles restliche Lebendige in diesem Film per Puppentrick realisiert worden. Diese Stop-Motion-Animationen sind fantastisch, wie immer bei Svankmajer. Jedoch geht seinen Figuren jegliche Niedlichkeit und Verträumtheit ab. Bei den surrealen Wesen, die da durch das Wunderland vegitieren, fühlt man sich eher an kindliche Alpträume erinnert. Und bei all der Düsternis und surrealen Abgehobenheit kommt der Film dem Urgedanken Carrolls auch näher, als der friedlich-fröhliche Disney-Film.

Svankmajer verzichtet auf jeglichen Onscreen-Dialog, lässt lieber seine Hauptfigur aus der Dritten Person erzählend alle gesprochenen Sätze aufsagen, und lässt einen Personen-zuordnenden Nachsatz, á la "...sagte das Kaninchen" folgen, zu dem er jedes Mal einen Close-up ihres Mundes zeigt. Sankmajer verhindert somit, dass wir uns völlig in das Schicksal Alices verlieren, sondern uns bleibt immer bewusst, dass wir uns innerhalb einer Erzählung befinden. Während die Dialoge auf ein Minimum reduziert werden, verzichtet Svankmajer komplett auf jegliche Filmmusik. Dafür wiederum lässt er eine ohrenbetäubende Soundtonspur auf uns los. Alles knartscht, knackst, splittert und kracht in satter, übertriebener Lautstärke. Durch jene verstörend andersartigen Soundeffekte, intensiviert sich nur die beklemmende, düstere Wirkung des Films.

"Alice" hat jedoch auch seine Schwächen. So merkt man dem Film deutlich an, dass Svankmajer als Regisseur zu unerfahren mit abendfüllenden Filmen umgeht. Sein Fairy-Tale-Ungetüm verhindert durch sein staksiges Tempo jegliche Kurzweil, und fordert von seinem Zuschauer genaue Konzentration und Sitzfleisch. Wer sich jedoch auf dieses groteske Märchen einlässt, dem wird eine unbequem abgewandelte Kindheitserinnerung geboten, die sowohl mit ihrer surrealen Bilderwelt, als auch mit der faszinierenden Perfektion in der Tricktechnik protzen kann. Dennoch ist diese Version von "Alice" nichts für Kinder. Denn abgesehen von den subtilen Verweisen auf Haschkekse und der dynamischen Symbolik zwischen Unschuld und Phallussymbolen, ist "Alice" ganz schlicht zu verstörend und düster für ein kleines Publikum.

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