Bereits sechs Jahre bevor Stanley Kubrick den 1962 erschienen Roman A Clockwork Orange von Antony Burgess auf die Leinwand brachte, kreierte Andy Warhol seine eigene Filmversion des Stoffes. Obwohl Vinyl sicherlich zu den eingängigeren und zugänglicheren Filmen Warhols gezählt werden muss, darf niemand hier einen herkömmlichen Spielfilm erwarten, und obwohl die Eröffnungsszene der von Kubrick frappierend ähnlich ist, was den Verdacht nahe legt, dass Kubrick Vinyl gesehen haben muss, unterscheiden beide Werke Welten.
Vinyl beginnt mit einer Großaufnahme von Alex Gesicht, dargestellt von Gerard Malanga. Es folgt ein Kamerazoom nach hinten, der einen düsteren Keller der Factory enthüllt, in dem mehrere Personen herumsitzen. Das wird für den Rest des Films die einzige Kamerabewegung bleiben. Angeblich stand Warhol diesmal nur eine zur Verfügung, deren technischen Finessen sich bereits in einem Rückwärtszoom erschöpften, und auch sonst bewegt sich das Budget in einem Bereich, in dem man nicht unbedingt von Budget sprechen kann. Malanga thront als Hauptfigur in der Mitte, direkt vor der Kamera, die nun eine Stunde regungslos verharrt. Um ihn herum sind verschiedene Leute gruppiert, die man in zwei Kategorien unterteilen kann. Die einen sind bewusst an der Inszenierung beteiligt, übernehmen Rollen, interagieren mit Malanga. Allerdings ist kaum offensichtlich, wer nun wen spielt, da die meisten Personen mehrere Rollen gleichzeitig erfüllen und sich dafür nicht etwa verkleiden oder ihren Wechsel sonst kenntlich machen, sondern weiter auf ihren Stühlen verharren. Andere Personen, darunter Edie Segdwick , die am rechten äußeren Rand sitzt, ein paar Joints raucht und das Geschehen mustert, scheinen nicht mal gemerkt zu haben, dass sie gerade gefilmt werden und fungieren als Zuschauer, die wie zufällig in den Fokus gerückt wurden. Im Hintergrund tobt sich eine SM-Truppe mit Peitschen, Ledermasken und Fesseln aus. Der Handlung zu folgen stellt sich als eine unlösbare Herausforderung dar. Selbst wenn man das zugrunde liegende Buch gelesen hat, erschließt sich einem wenig von dem, was sich da vor einem abspielt. Zudem muss sich jeder Zuschauer seine eigenen Bilder zu der Geschichte schaffen, da Warhol uns, wie gesagt, nicht mehr bietet als einen schummrigen Kellerraum und ein paar Menschen, die ihn bevölkern, das rohe Material sozusagen, das jeder mittels seiner eigenen Phantasie gestalten sollte. Ob Warhol allerdings eine derartige Intention mit seinem Werk verfolgte, möchte ich eher anzweifeln.
Bis hierhin könnte man Vinyl für einen schlechten, belanglosen, billigen Film halten, den man heutzutage einzig wegen Warhols Namen und der Tatsache kennt, dass er die erste Adaption von A Clockwork Orange darstellte. Mich hat Warhols ungewöhnlicher und einzigartiger Versuch einer Romanverfilmung, trotz einiger Längen, die man ihm nicht absprechen kann, einigermaßen begeistert. Einige Szenen wie bspw. die, in der Alex gezwungen wird, sich mit aufgerissenen Augen grausamste Filme zu betrachten (die Warhol freilich nicht zeigt, sondern im Off laufen), oder wenn am Ende die Sado-Maso-Truppe vollends in Aktion tritt, haben mir genauso gut gefallen wie das gesamte Konzept der Reduktion und der schieren Absurdität, die Warhol bis zum Schluss durchhält. Neben der Tatsache, dass Edie Sedgwick selbst vollkommen passiv recht bezaubernd aussieht, ist es jedoch vor allem eine längere Szene, die mich von Vinyl überzeugte. Es handelt sich um eine Tanzszene Malangas, die ich – neben der in Godards Außenseiterbande – für eine der besten halte, die ich je in einem Film gesehen habe. Malanga hält einen endlosen Monolog, der mit folgenden Worten schließt: maybe I do not know what I’m talking about but I know I do what I like because I like it. Sodann verfällt er in einen Tanz, für den die Bezeichnungen wild oder ekstatisch noch untertrieben sind. Zweimal spielt man den Song Nowhere To Run von Martha & The Vandalls, während die Handlung stoppt und Malanga sich wie ein wahnsinniger Derwisch vor der Kamera gebiert. Für mich einer der großartigsten Momenten im Kino Warhols.
Ansonsten gilt auch für Vinyl, was für sämtliche Filme gilt, die Warhol noch selbst inszenierte, bevor Paul Morrissey den Filmbetrieb der Factory übernahm: für Mainstream-Freunde ist das Ganze überhaupt nichts. Wer allerdings eine schier unglaubliche Adaption von Clockwork Orange erleben und dazu noch ein schier unglaubliches Tänzchen geboten bekommen möchte, ist hier genau richtig.