Der Psychothriller ist tot. Lang lebe der Psychothriller.
Psychokiller üben eine seltsame Faszination aus. Sie morden nicht aus einem nachvollziehbaren Affekt heraus, sondern werden von einem düsteren Drang getrieben, der »normalen« Menschen unverständlich bleiben muss. So scheint es zumindest. Holden Ford (Jonathan Groff), FBI-Agent in 1977 in den USA, ist da anderer Meinung. Er glaubt, die Motive dieser »Psychos« lasse sich erklären. Wenn man ihnen nur lange genug zuhört. Sich auf sie einlässt. Holden eckt mit seinen Ideen an – vor allem bei seinem Vorgesetzten Shepard (Cotter Smith). Allerdings findet er bald einen ruppigen, doch zuverlässigen Partner: Gemeinsam mit Bill Tench (Holt McCallany) besucht er Serienmörder, efragt sie über ihre Gefühle und Lebensgeschichten. Das Projekt erweckt die Aufmerksamkeit der Psychologieprofessorin Wendy Carr (Anna Torv). Sie gesellt sich zum Team und verleiht den Befragungen eine Wissenschaftlichkeit, die sie dringend nötig haben. Langsam aber sicher stellen sich auch erste Erfolge in der Praxis ein. Doch Holden, Bill und Wendy laufen Gefahr, Opfer ihrer eigenen Methoden zu werden. Die verstörenden Interviews gehen nicht spurlos an ihnen vorbei.
Regisseur David Fincher (Fight Club, The Social Network) hat nicht nur im Kino seine Fussabdrücke hinterlassen; mittlerweile beeinflusst er auch die zeitgenössische Serienwelt massgebend. Für den Streaming-Dienst Netflix produzierte er die Polit-Satire House of Cards – die erste Eigenproduktion des US-amerikanischen Unternehmens überhaupt. 2017 legte Fincher Mindhunter nach. Einmal mehr widmet er sich dem Genre, das einst seinen Ruhm begründet hat: dem Psychothriller. Seit dem Erfolg Se7en (1995) beschäftigt sich Fincher mit Psychokillern, ist aber Film für Film subversiver geworden. In Zodiac (2007) verschiebt er den Fokus vom Killer auf die Detektive. Er porträtiert drei Männer, die verzweifelt die Identität des enigmatischen Zodiac-Mörders aufdecken wollen – und die an ihrer Obsession zugrunde gehen. In Gone Girl (2014) schliesslich unterwandert Fincher den Begriff des Verbrechens an sich; hier ist der kriminalistische Plot lediglich Aufhänger für ein satirisches Gesellschaftsbild. »Wir alle sind Psychos«, scheint er sagen zu wollen. Und so scheint Fincher, Meister des Thrillers, erfolgreich auf die Auflösung ebendieses Genres hingearbeitet zu haben. Denn: Wenn wir alle Psychos sind, dann ist es unredlich, Massenmörder à la Hannibal Lecter zu verklären.
Nun also Mindhunter. Kann diese Serie Finchers Filmographie überhaupt noch etwas Neues hinzufügen? Sie kann. Denn sie sucht eine selbstreflexive Meta-Ebene. Ähnlich wie Zodiac konzentriert sich Mindhunter auf die Psyche derer, die Verbrechen aufklären wollen. Oder besser: Die Psyche derer, die Verbrechen erklären wollen. Denn darum geht es Holden und Bill letztlich: Sie wollen verstehen, was Menschen dazu treibt, methodisch und kaltblütig Menschen zu töten. Sie beginnen als FBI-Agenten und verwandeln sich schrittweise in Wissenschaftler. Es geht nicht mehr darum, Verbrechen zu bestrafen. Es geht darum, sie zu verhindern. Man kann die Serie als Essay zum Begriff »Serienkiller« lesen. Jede Folge widmet sich einem anderen Archetypen des Psychopathen: der organisierte und der unorganisierte, der intellektuelle und impulsive. Im Vordergrund stehen die Erkenntnisse der »Behavioral Science Unit« des FBI. Holden & Co. können mit ihren Methoden zwar Verbrecher dingfest machen, aber diese Erfolge erscheinen immer als Pyrrhussiege. Die Rechtssprechung hinkt der Wissenschaft hinterher und fällt fragwürdige Urteile. Und allzu viele Verhaftungen gefährden den Fortschritt der wissenschaftlichen Untersuchungen – denn wer will schon mit den Verhaltensforschern kooperieren, wenn er den Hammer der Justiz fürchten muss? Wo die klassische Folge eines Crime-Dramas endet, fängt Mindhunter erst an.
Mindhunter spielt allerdings die grösste Stärke einer Serie aus: nuancierte Charakterzeichnung. Holden Ford entwickelt sich vom unsicheren Forscher zum arroganten Sherlock Holmes, Bill Tench mausert sich vom ruppigen Gefährten zur kritischen Stimme der Vernunft. Die Gespräche mit den Serienkillern schleichen sich in den Alltag des Gespanns Holden/Bill. Mit seiner aufgeschlossenen Freundin Debbie Mitford (Hannah Gross) entdeckt Holden eher abseitige Sexualpraktiken, während er über die »kranken« Gelüste seiner Forschungsobjekte schnaubt. Und Bill findet in seinem eigenen Adoptivsohn eine beunruhigende Entsprechung zu den Verbrechern, die er interviewt. Die Arbeit zermürbt sie, und die beiden driften auch emotional auseinander. Der Topos des verzweifelten Ermittlers ist etwas abgenutzt, aber Fincher tritt so classy, reduziert und menschlich an ihn heran, dass das kaum stört. Man freut sich einfach darüber, dass in Mindhunter mindestens fünf intelligente Protagonisten miteinander agieren. Diese Figuren haben etwas zu sagen, hinterfragen sich selbst und ihre Forschung. Es wirkt selten so, als wolle uns Fincher etwas aufdrängen. Das war bei Se7en noch anders. Angenehm auch, dass die Serie gemächlich voran schreitet und selbstsicher auf Schauwerte pfeift. Hier muss man mitdenken, um Spass zu haben.
Filmisch bietet uns Fincher wie gehabt Grossartiges: seine Bilder sind chirurgisch präzise und elegant unterkühlt. Wenn ich »Fincher« schreibe, meine ich auch die fünf Co-Regisseure, die sich für die Episoden 3 bis 8 verantwortlich zeichnen. Sie ziehen den Fincher-Stil konsequent und unprätentiös durch. Handfeste »Wow«-Momente gibt es selten. Zu nennen wäre hier die Montage in Episode 2, die das Verstreichen der Zeit illustriert, indem sie ähnliche Handlungen in einem Schnittgewitter aneinanderreiht. Oder die Szene in Episode 10, in der die Kamera Hoden und Debbie beim Einkaufen folgt, wobei sie – zwischen den beiden und vor dem Einkaufswagen – hin und her schwenkt, um Holden bei der Auswahl der Waren zu beobachten. Wenn Debbie nach etwas greift, bleibt die Kamera stur auf Holden gerichtet. Bis ganz zum Schluss, wo die Kamera mit Debbie davonfährt und Holden im Hintergrund verschwimmt. Eine so subtile wie kraftvolle Art, das Auseinanderleben zweier Menschen darzustellen.
Mindhunter ist ein gruseliger und kluger Meta-Thriller. Ein Genuss. Wer die langsame Expositions-Episode durchsteht, auf den wartet eine fesselnde Reise in die Psyche von Serienkillern. Man muss Fincher vorwerfen, dass er die Mystifizierung des gestörten Schwerverbrechers trotz analytischem Scharfsinn nicht ganz los wird. Immerhin thematisiert er dieses Phänomen selbstreflexiv. Die Serie scheint ohnehin ein Stück Selbstbefragung zu sein. In der letzten Folge wird der Verhaltensforscher Holden direkt mit einem Regisseur verglichen. Auf Audiokommentaren witzelt Fincher regelmässig darüber, dass er »nun schon wieder einen Serienkiller-Film« gedreht habe. Man wundert sich, weshalb. Aber noch interessanter ist die Frage, weshalb wir – das Publikum – so besessen sind von diesem Subgenre. Wer weiss. Nur eines ist sicher: Netflix hat die zweite Staffel von Mindhunter bereits angekündigt. Sie kann nicht früh genug kommen.
9/10