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Eine poetische Zeitkapsel

1970, Mexiko-Stadt. Das Kindermädchen Cleo (Yalitza Aparicio) hat alle Hände voll zu tun. Die fürsorgliche Frau arbeitet für eine sechsköpfige Familie im Stadtteil Roma. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit dem Kampfsportler Fermín (Jorge Antonio Guerrero). Nach einiger Zeit stellt Cleo erschrocken fest, dass sie schwanger ist. Da ihr Liebhaber Fermín nicht die Verantwortung für das Kind übernehmen will, ist sie auf die Unterstützung ihrer Arbeitgeberin Sofía (Marina de Tavira) angewiesen. Gemeinsam suchen sie einen Weg, dem kommenden Kind ein Leben zu bereiten. Das ist allerdings leichter gesagt als getan; zumal ein historisches Ereignis einen Strich durch die hoffnungsvoll aufgestellte Rechnung zu machen droht.

Roma (2018) ist gleichermassen die Geschichte eines persönlichen Schicksals wie ein Portrait des mexikanischen Mittelstandes während der frühen 70er-Jahre. Regisseur Alfonso Cuarón beschenkt uns mit einer lebendigen Zeitkapsel, die uns an einen Ort versetzt, den er selbst persönlich erlebt hat. Er tut dies in wunderschönen Schwarz-Weiss-Bildern, die Mexiko-City mit poetischer Prägnanz einfängt. Die Kamera, von Cuarón selbst geführt, schwenkt von Schnitt zu Schnitt durch Wohnungen, Strassen, Wälder und über Dächer.

Selten hat man in einem Film so viele Schwenke und so wenige Close-Ups gesehen. Fast so, als interessiere sich Cuarón mehr für die Umgebung als für seine Hauptfigur. Aber dem ist nicht so. Gerade die physische Distanz der Kamera zu Cleo macht dieselbe stärker erfahrbar. Die grandiosen Opening Credits sind symptomatisch für diesen Kniff. Während die Mitwirkenden aufgelistet werden, zeigt Cuarón einen Plattenboden, der nach und nach mit Wasser gespült wird. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, hebt Cuarón den Blick und zeigt Cleo in der Ferne, wie sie die Einfahrt der Wohnung putzt. Danach folgt er ihr – immer mit gebührenden Abstand – bei ihrer täglichen Routine, dem Aufräumen und Putzen. Cuarón verortet seine Figur klar in einem gewissen Kontext. Er schirmt sie vom Zuschauer ab, sodass dieser sich gleichsam zu Cleo vortasten muss. Spätestens nach zwei Stunden ist er ganz nahe bei ihr. Eine wundersame Reise.

Cuaróns filmischer Blick ist betont kunstvoll. Er zeichnet seine Figuren weniger durch ihre Gesichtsausdrücke, sondern durch ihre Körper und Gesten. Auch Symbole lässt er sprechen. Der Familienvater etwa tritt zunächst als gesichtsloser Autofahrer auf, der seinen sperrigen Ford in die enge Einfahrt zu zwängen versucht. Allein dies erzählt uns mehr über ihn, als alle Worte, die er von sich gibt – und der Ford wird zum aufgeladenen Sinnbild der Ehe. Äusserst fein gezeichnet ist auch die Beziehung zwischen Cleo und dem jüngsten Sohn der Familie. Zu Beginn des Filmes liegen die beiden auf dem Dach des Hauses und spielen, dass sie tot sind. Ein so liebevoller wie ominöser Moment, den die beiden miteinander teilen.

Kein Wunder, ist Roma ein Kritiker-Liebling: Beinahe jede Szene lässt sich vortrefflich beschreiben und interpretieren. Der Subtext ist nur ein Blinzeln entfernt. So meisterhaft Cuarón auch filmt, hin und wieder verkommt seine Kamera-Arbeit zum Selbstzweck. Wenn die Kamera zum zehnten Mal durch einen altbekannten Raum schwenkt, wird’s dann doch leicht ermüdend. Zudem: An ganz wenigen Stellen überspannt Cuarón den Bogen des Kunstvollen. Etwa dann, wenn ein Wald abbrennt und ein Mann daneben ein Liedchen vor sich hin singt. Das wirkt arg gestellt.

Das ist Meckern auf hohem Niveau, auch wenn es verhindert, dass man Roma ein Meisterwerk nennen kann. Sieht man von einigen kleinen Patzern ab, ist dieser Film eine wahrer Genuss für Freunde des anspruchsvoll reduzierten und doch spektakulären Kinos. Denn Cuaróns Bilder sind trotz ihrer Schlichtheit gross und bewundernswert. So erhaben sind sie, dass sie zuweilen kühl und kalkuliert wirken. Hinter jeder Einstellung scheint eine gähnende Leere zu lauern, eine unausgesprochene Drohung. Die ruhige, oft panoptische Kamera hat etwas Allwissendes, eine geradezu gespenstische Neutralität.

Es ist, als steuere der Film in ruhigen Schritten auf etwas Unvermeidliches zu. Was auch so ist. Der eigentliche Höhe-, Wende- und Fluchtpunkt des Filmes ist ein gekonnter Schlag in die Magengrube, der nicht so schnell vergessen geht. Und der darauf folgende Ausflug ans Meer dürfte zu den berauschendsten Sequenzen der letzten Jahre gehören. Ein wundervoller Drahtseilakt, den Cuarón hier meistert: zwischen Grösse und Detail, Objektivität und Subjektivität.

Roma ist eine wohltuende Absage an das überhastete Erzählen, ein kontemplatives Stimmungsbild, das Poesie gekonnt mit Prosa verbindet. Man kann den Film auf Netflix geniessen, aber er schreit geradezu nach der üppigen Leinwand. Also schnell ins Kino rennen, bevor er wieder verschwindet.

9/10

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