Review
von Der Zerquetscher
Ein Theaterstück hat nicht den Luxus, durch schauwertiges Inszenieren von inhaltlicher Leere abzulenken. Der zuständige Intendant kann nicht in der Manier der großen Blockbuster des neuen Jahrtausends grandiose Kulissen visueller Augenwischerei dem potentiell intellektuell interessierten Publikum vor die Nase ziehen. Er muss sich ganz der Triftigkeit seiner Geschichte und der Legitimation seiner Figuren widmen. Dialog, Mimik und Gestik sind nicht nur zentral - sie sind absolut. Das verleitet nicht selten dazu, die sich über die Bühne bewegenden Akteure zu sehr zu stilisieren. Sie in Schubladen zu pressen. Sie zu schematisieren und zu simplifizieren. Besonders, wenn da etwas gesagt, gar ausgesagt werden soll. Wenn da eine Botschaft ist. Und ganz besonders, wenn es sozialkritisch wird. Und was für das Ensemble gilt, trifft fast zur Gänze auch auf das Kammerspiel zu.
Der erwachsene Sohn klopft an Heiligabend nach Jahren der Abwesenheit überraschend an der Tür der Eltern. Der junge Mann ist nicht ohne Grund lange nicht mehr zuhause gewesen, denn sein Vater, sein Großvater und seine Schwester sind alles andere als unkomplizierte Zeitgenossen (Nur die Mama ist psychologisch unauffällig und freut sich über das Wiedersehen). Das äußert sich so, dass ein großer Teil der Familie verstandesmäßig zwischen wenig Bildung, sklavischer Kurznachrichtenhörigkeit, latentem Rassismus und pathologischem Jähzorn ein Dasein fristet. Kein Wunder, dass man solchen Angehörigen nicht dauernd die Bude einrennt. Erst recht nicht, wenn man diesem White-Trash als neue Freundin ein dunkelhäutiges Mädchen mit indischen Wurzeln vorstellt. So misslingt „Christmas Eve" erwartungsgemäß völlig, und das junge Paar beschließt, nur noch die Nacht dort zu verbringen, um so bald wie möglich am kommenden Morgen das Weite zu suchen. Doch dafür ist es dann zu spät. Denn das Haus ist inzwischen mit einer schwärzlichen Substanz hermetisch abgeriegelt worden. Alle Fenster und Türen sind verrammelt. Und keiner weiß, was los ist. Binnen Kurzem wird das familiäre Domizil (zumal in dieser Gesellschaft) zum Gefängnis. Dann schaltet sich plötzlich der Fernseher ein und gibt per Kurztext Anweisungen, die angeblich ohne jedes Widerwort oder Nachfragerei penibel zu befolgen sind. Natürlich dauert es nicht lange und das soziale Miteinander implodiert.
So nett die Prämisse dieses englischen Films unter der Ägide des noch recht unbeleckten Johnny Kervorkian ist, nach kurzer Zeit wird klar, dass der hier unter die Lupe genommene Mikrokosmos vor Kitsch-Gestalten, unglaubwürdigem Wollen und an den Haaren herbeigezogenen Konflikten nur so wuselt. Der Großpapa war einst bei der Militärpolizei und verlangt auch als Rentner Gehorsam. Der Papa ist so krankhaft autoritär, dass man meint, sein Verhalten sei reiner Selbstzweck. Und die Schwester politisiert dazu immerfort auf dem intellektuellen Niveau einer Erdnuss. So wähnt der Regisseur, die moralische Indisposition der Gesellschaft auf den Punkt gebracht zu haben. Nur wirkt das Ganze wie Bertolt Brecht auf Alkoholentzug. Oder Theater im Vollrausch. Oder Psychoanalyse in Playmobilhausen. Der Mord und Totschlag, den dieses Stück über dem Zuschauer ausschüttet, lässt sich rational schlicht nicht mehr nachvollziehen. Und das ist nicht nur ein kleines Manko, das ist der Klops, der dicke Hund, der Kapital- und Kardinalfehler dieser Inszenierung und unmissverständliches Indiz ihrer fahrigen Laienhaftigkeit.
So ignorant die Charaktere dieses Spiels angelegt sind, so naiv entpuppen sich die ersten Gehversuche Kervorkians in Sachen Psychologie. Auch um sein Wissen in Fragen der Humanmedizin ist es nicht eben gut bestellt: Als sich eine der Hauptfiguren das Bein bricht, setzt die tödliche Sepsis binnen kürzester Zeit ein. Wie eingangs die Erkenntnis, was einem hier eine Filmlänge lang klipp und klar gemacht werden soll. Nämlich, dass man nicht alles glauben darf, was der Fernseher zu sagen hat. Dass Medienkritik etwas Begrüßenswertes und Notwendiges ist. Nur wissen wir das schon seit John Carpenters „Sie leben". Und spätestens seit dem wissen wir auch, dass man dieses (durchaus relevante) Thema narrativ elegant und intellektuell interessant verpacken kann. Da zieht auch der - ein überraschend gelungenes Ende einläutende - Hellraiser-Gedächtnismoment das Kind nicht mehr aus dem Brunnen. Nein, einfach nichts reißt bei diesem Affentheater so richtig mit.