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Film ist ein Medium, von dem man im Allgemeinen erwartet, dass es einen weit über die Wirklichkeit hinausträgt. Nur beim Kriegsfilm gelten, wie eben auch beim Krieg selbst, Ausnahmezustände. Es ist gerade sein Bezug zur Realität, der ihn wie einen Stein zu Boden fallen lässt. Wer einen Vertreter seiner Gattung lobend hervorheben möchte, der wird pauschal darauf hinweisen, wie realistisch und ungeschönt das hässliche Wesen des Kriegs darin porträtiert wird. Dies scheinen obligatorische Kriterien zu sein, deren Ab- oder Anwesenheit bereits über die Qualität des Werkes entscheiden kann. Zumindest gilt das, solange man den Kriegsfilm als Auseinandersetzung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts definiert, solange also Historienfilme und Allegorien aus den Bereichen Fantasy und Science Fiction ausgeklammert werden. Filme über den Zweiten Weltkrieg fallen in diese Definition. Sie bedienen ein Genre, dessen Bewertungsmaßstäbe offenbar einem klar ausgeprägten Dogmatismus unterworfen sind.

Das Kriegsdrama „The Painted Bird“ ist gewissermaßen ein Sonderfall, denn es basiert auf dem Roman eines Autoren, dem man nachsagt, dass er es mit der Wirklichkeit nicht so genau genommen habe. Ursprünglich vermarktet als autobiografische Erzählung, die angeblich auf die Kindheitserinnerungen des Autoren zurückgingen, räumte Jerzy Kosiński später ein, dass es sich bei seinen episodischen Erzählungen aus der Perspektive eines heimatlosen Jungen um reine Fiktion handle. Selbst mit diesem Eingeständnis waren Kosińskis Kritiker allerdings noch nicht zufriedengestellt, sie warfen ihm gar vor, sich nicht bei der eigenen Vorstellungskraft, sondern bei international unbekannten polnischen Autoren bedient zu haben, um seine Werke zu verfassen.

Für die späte Filmadaption, entstanden fast drei Jahrzehnte nach dem Tod des Schriftstellers, kann das nur bedeuten, dass sie nicht nach den üblichen Kriterien bewertet werden kann, auch wenn man oberflächlich betrachtet durchaus mit ihnen argumentieren könnte. Denn ungeschönt, hässlich, ja schonungslos und furchtlos, das sind alles Attribute, die der slowakisch-tschechisch-ukrainischen Koproduktion von der ersten Filmminute an auf die Kameralinse gepinselt stehen. Mit dem Realismus hingegen, da ist es so eine Sache.

Aufgegliedert sind die fast drei Stunden Laufzeit von „The Painted Bird“ durch etliche schwarze Kapitel-Tafeln, jeweils nach den aktuellen Bezugspersonen des namenlosen jüdischen Streuners in der Hauptrolle benannt, gespielt vom damals neunjährigen Petr Kotlár. Man könnte bei den Kapiteln beinahe von einer Serie von Kurzfilmen sprechen, die jeweils durch ihre Hauptfigur und den übergeordneten Horror miteinander verbunden sind, aber unterschiedliche, aufeinander aufbauende Aspekte derselben Welt dokumentieren. Wie im Roman bleiben die Verbindungswege zwischen den einzelnen Stationen unbeschrieben, das Schicksal treibt den Jungen quasi unmittelbar von einer Extremsituation zur nächsten, so dass schon die Erzählstruktur die Abwesenheit von Geborgenheit, Kontinuität und Stabilität unterstreicht.

Die eigentlichen Kriegsaktivitäten, mit ihnen der Bezug zum historischen Zeitstrahl, befinden sich zu jenem Zeitpunkt des Films noch völlig außerhalb des Wahrnehmungsfeldes von Auge und Ohr. Keine Soldaten, keine Schüsse, keine Propaganda, nicht einmal ein Echo am Horizont. Es sind vielmehr die im Limbus vegetierenden Menschen und Institutionen in den Dörfern, die man als indirektes Resultat eines auf dem Kontinent wütenden Krieges begreift. Als der Junge im ersten Kapitel mit seiner Pflegemutter den Alltag durch allerlei Haushaltstätigkeiten bestreitet, da könnte das Szenario einer beliebigen, nicht näher definierten Vergangenheit auf einem Landgut irgendwo in Europa entstammen. Das Kapitel fühlt sich beinahe an wie die geraffte Kurzfassung von Béla Tarrs ausschweifender Alltagsbeobachtung „Das Turiner Pferd“ (2011), die eigentlich im Jahrhundert vor „The Painted Bird“ angesiedelt ist und dennoch einem sehr ähnlichen Ablauf folgt. Nur dass es diesmal eben der Anfang einer größeren Geschichte ist.

Für einen vermeintlich autobiografischen Stoff meidet die Erzählung also auch in der filmischen Form bereits auffällig deutlich etwaige Eckdaten und Indizien für eine zeitliche und örtliche Eingrenzung. Obwohl die kargen Schwarzweißbilder durchaus etwas Einfaches ausdrücken, das für eine gewisse Auslegung von Realismus stehen könnte, so trägt die kindliche Fantasie ihre Hauptfigur doch immer wieder vom Regen in die Traufe, den Szenenwechsel immer dann ausführend, wenn es in der vorherigen Lage zu unerträglich wird – ungefähr so, wie man aus einem Traum aufwacht, wenn man darin kurz vor dem Tod steht, nur um festzustellen, dass der neue Wachzustand lediglich ein noch schlimmerer Traum ist.

Der narrative Ansatz, ein Kind auf eigene Faust das unwirtliche Osteuropa zur Zeit deutscher Besatzungen durchstreifen zu lassen, lässt automatisch an „Komm und sieh“ (1985) denken, zumal in beiden Fällen veranschaulicht wird, wie die Unschuld eines jungen Menschen durch die Gräuel seiner außer Kontrolle geratenen Umwelt unwiederbringlich zerbricht. Während der Weißrusse Fljora in Elem Klimows Antikriegs-Epos jedoch wie ein passiver Ball quer über die verbrannte Erde seines Landes getreten wird und dabei kaum anders kann als mit permanentem Entsetzen auf eine Welt zu reagieren, deren Regelwerk außer Kraft gesetzt ist, so dass er am Ende als desillusioniertes, um Jahre gealtertes Wrack zurückbleibt, wird der Protagonist aus „The Painted Bird“ mit einer neuen, bestialischen Normalität konfrontiert, die ihn schließlich anstelle seiner leiblichen Eltern zu erziehen beginnt. Ihre teuflische Dramaturgie bezieht die insgesamt recht linear aufgebaute Handlung aus der Frage, wann und wie der anfangs so sensibel gezeichnete Junge wohl durch die Erfahrungen mit einer Umwelt gebrochen wird, die ihm keinerlei Gnade zuteil werden lässt.

Und Regisseur Václav Marhoul scheut sich nicht, die bereits im Roman vorzufindende Radikalität in einem toxischen Gemisch aus Gewalt, Sex und Religiosität aufzulösen, das seinen Ursprung in einer vorindustriellen Gesellschaft bäuerlicher Autarkie hat. Es herrscht anstatt Aufklärung wieder die Selbstjustiz des einfachen Landvolks, dessen Dörfer mit einem mythologischen Schleier von den technologischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts abgeschirmt zu sein scheinen. Anstelle von Empathie oder sozialem Pflichtgefühl bestimmen Aggression und Aberglauben über den Fortgang der Ereignisse. Marhoul jedenfalls fackelt nicht lange, um unzählige Momente herzzerbrechender Grausamkeit aufzubahren, begonnen damit, dass das Haustier der Hauptfigur, ein Frettchen, gleich in der ersten Szene vor den Augen seines Besitzers verbrannt wird.*

Es ist nicht nur der frühe Verlust der zuvor deklarierten Unschuld, sondern der Auftakt einer Abfolge von Begegnungen zwischen Mensch und Mensch oder Mensch und Tier, was auf eine besondere symbolische Funktion der Tierwelt im Film schließen lässt, in der sich die Versäumnisse und die Sünden des Menschen spiegeln. Ein Pferd mit gebrochenem Bein, das als Nutztier keine Funktion mehr erfüllt, kopulierende Katzen, die ihren Besitzer auf unangenehme Weise an die animalische Natur seiner eigenen Art erinnern, eine Ziege, unter deren Bauch sich eine pädophile Nymphomanin räkelt, um ihren jungen Liebhaber mit teuflischem Grinsen zu verhöhnen und nicht zuletzt die gellende Metapher des Buch- und Filmtitels um den bemalten Vogel, der mit weißer Farbe auf den Flügeln zu seinen Artgenossen entlassen und dort von ihnen als Eindringling zu Tode gepickt wird. Das Szenenbild ist oft gefüllt mit handgemachten Käfigen, die einen beachtlichen Teil der inhaltlichen Lesart des Films ins Übertragene verlagern, in jenen Interpretationsbereich also, der sich dem Tatsächlichen, dem Faktischen, dem Unvermittelten, dem Non-Medialen entzieht.

In weiteren Episoden werden immer weitere obszöne Facetten der menschlichen Natur ausgestellt, bis aus dem der Form nach authentischen Kriegsdrama ein surrealer Alptraum von Buñuel’scher Ausweglosigkeit entstanden ist, bei dem sich bisweilen Bilder von unvorstellbarem Exzess ergeben, die die Frage nach der neuen Definition von Normalität stellen. Inmitten dessen immer noch der Junge, der als Beobachter dieser Bilder permanent zugegen ist und Werte aus ihnen zieht, die sich wiederum auf seine Peiniger reflektieren, welche sich ebenso wie seine wenigen Beschützer aus den unterschiedlichsten, oft überraschenden Bereichen rekrutieren. Gerade hier ist „The Painted Bird“ besonders schmerzhaft, aber auch ausdrucksstark, zumal die Gewalt nicht etwa von Vertretern des Bösen ausgeübt wird, sondern von leeren Hülsen, deren Seelen sich längst von den motorischen Handlungen gelöst haben.

Eine erstaunliche Garde international bekannter Gesichter ist dazu auserkoren, die schwermütigen Erzählungen zu tragen, von Stellan Skarsgård über Barry Pepper bis hin zu Julian Sands, Harvey Keitel und Udo Kier. Sie alle arbeiten aufopferungsvoll in ihren Rollen, die vermutlich jeweils nur wenige Drehtage beansprucht haben dürften, werden aber bisweilen von den unbekannten Gesichtern im Cast noch ausgestochen. Nicht zuletzt sicherlich von Hauptdarsteller Petr Kotlár, einem ganz normalen Kind ohne jede Schauspielerfahrung, das dem Regisseur in Prag über den Weg lief, wo er an seinen Drehbuchentwürfen arbeitete. Die komplexe Charakterentwicklung seiner Figur meistert der Junge auf eine intuitive Art, die mutmaßen lässt, dass er selbst ebenfalls erwachsen wurde, als er zwischen 2017 und 2018 der Mittelpunkt aufreibender Dreharbeiten war, die ihm Kräfte abverlangt haben müssen, wie sie einem Neunjährigen selten abverlangt werden.

„The Painted Bird“ mag in seinem symbolischen Ausdruck ungewöhnlich bildhaft sein für ein Kriegsdrama und vielleicht etwas ungestüm und radikal in der Wahl seiner Mittel, um dem Zuschauer einen Eindruck des Grauens einer Wirklichkeit zu vermitteln, in der ein Krieg die Menschen wieder in Tiere verwandelt hat, die rasend vor Irrationalität aufeinander losgehen. Aber Fiktion oder nicht, es ändert nichts an der ungeheuren Intensität, mit der diese Tour de Force über ihre gesamte Laufzeit fesselt.

*Ein Producer’s Statement im Abspann und Interview-Aussagen des Regisseurs bezeugen erfreulicherweise, dass beim Dreh weder in dieser Szene noch in späteren Szenen echte Tiere zu Schaden gekommen sind; ferner wurden sämtliche Stunts und andere brisante Szenen des Jungen von einem erwachsenen Double nachgestellt.

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