iHaveCNit: Die Wütenden – Les Misérables (2020)
15.12.2020
Den Abschluss des Filmjahrs der in 2020 gestarteten Filme im Kino habe ich mir anders vorgestellt. Mein Filmzähler lag vor dem leichten Lockdown bei 86 – da ich jedoch runde Zahlen bevorzuge und die nächste Runde Zahl bei 90 liegt, habe ich zum Abschluss des Jahres noch 4 Filme, die ich im Heimkino nachholen möchte. Den Beginn dieser „Final Four“ macht hier der französische Film und Oscarkandidat „Die Wütenden – Les Misérables“, der sich zwar „Parasite“ geschlagen geben musste, aber gestern Abend mir schon gezeigt hat, dass er nicht ohne Grund zu den Nominierten zählte.
Den ersten Arbeitstag hat sich der prinzipientreue Stéphane bei seiner neuen Einheit im Pariser Vorort Montfermeil sicherlich anders vorgestellt. Nicht nur, dass er mit seinen erfahrenen Kollegen Chris und Gwada zu für ihn sehr fragwürdigen und unüblichen Mitteln greifen, die dortigen Spannungen zwischen rassistischer Polizeigewalt, Armut und kriminellen Parallelgesellschaften befinden sich in einer toxischen Abwärtsspirale, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt. Dieser Mikrokosmos offenbart sich ihm im Fall eines in diesem Viertel gestohlenen Löwenbabys, bei dem die Lage zu eskalieren droht.
„Die Wütenden – Les Misérables“ ist eine sehr starke Mischung aus Crimedrama und Milieustudie. Man spürt förmlich mit welch akribischer Beobachtung und Nähe zum Milieu im Pariser Banlieu Montfermeil der Regisseur Ladj Ly hier den Film aufzieht und einen faszinierenden, aber auch zeitgleich erschütternden Einblick bietet. Der Verlauf des Films selbst hat mich bei der Sichtung gerade wenn es um den ersten Arbeitstag eines eher prinzipientreuen Polizisten geht, der mit eher fragwürdigen Kollegen zusammenarbeiten muss auch an Antoine Fuquas „Training Day“ erinnert. Selbst wenn ich zum Beispiel auch in jungen Jahren und meiner Jugend in sozialen Brennpunkten und leicht an Armut grenzenden Verhältnissen aufgewachsen bin, kann ich mir nur im Ansatz die Armut und Hoffnungslosigkeit vorstellen, die in den Pariser Banlieus herrscht. Die hier im Film dargestellte toxische Abwärtsspirale und das Spannungsfeld zwischen rassistischer Polizeigewalt, Armut und den bereits geschaffenen Strukturen krimineller Parallelgesellschaften spiegelt durchaus die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Frankreich wieder. Mit einer eher hektischen und dynamischen Handkamera wirkt der Film dann auch schon fast dokumentarisch. Dass ich hier quasi durch die Bank weg auch Darsteller zu sehen bekomme, die ich noch nie vorher gesehen habe, lässt mich auch komplett unvoreingenommen den Film erleben und wahrnehmen. Die Spannung im Film steigert sich bis zum Ende ins Unermessliche und lässt den Film mit einer interessanten Situation und einem interessanten Spannungsfeld enden, die einen Bogen zu entsprechenden Schlüsselmomenten und Dialogen schlägt. Auch wenn sich der Film ganz klar auch in seiner Erzählung der Handlung ganz klar dazu hinreißen lässt, rassistisch und auch sexistisch motivierte Polizeigewalt kritisch zu hinterfragen, so gilt das in Ansätzen auch zu den geschaffenen kriminellen Strukturen und Parallelgesellschaften. Gerade hier fand ich es großartig, vielleicht ähnlich wie in Denis Villeneuves „Sicario“ einen eher prinzipientreuen und neutralen Charakter als Identifikationsfigur zu bekommen, um einen weitestgehend neutralen und kritischen Blick auf das ganze Geschehen zu bekommen. Aber bei der Auflösung des Geschehens macht es sich der Regisseur Ladi Ly nicht einfach, denn die festgefahrenen Spannungsfelder sind ein zu komplexes Problem, so dass ein Filmemacher hier klare Lösungen anbieten kann. Das gleiche gilt auch für mich.
„Die Wütenden – Les Misérables“ - My First Look – 9/10 Punkte