Sind wir nicht alle eine grosse Familie?
Der Vater ist es, der Sohn, die Mutter und die Tochter auch: Die gesamte Familie Kim ist arbeitslos, lebt im Untergeschoss eines verlotterten Gebäudes. Da taucht plötzlich ein Schulfreund des Sohnes Kim Gi-u (Choi Woo-shik) mit einer einmaligen Gelegenheit auf: Er vermittelt dem Sohn eine Stelle als Nachhilfelehrer bei der steinreichen Familie Park. Gi-u fälscht kurzerhand seine Uni-Zulassung und wird flugs von den Parks als Englischlehrer eingestellt. Das war so einfach, dass Gi-u mit ausgefeilten Tricks seine ganze Familie in den Dienst der Parks stellt. Eine Scharade auf Messers Schneide.
Die Genres Thriller und Horror teilen sich ein düsteres Eckchen, das seit vielen Jahren hochstehende Filmperlen hervorbringt: »Home Invasion«. Das bürgerliche Heim, besetzt von unbekannten Emporkömmlingen: Das gibt Anlass für so manche politische, medien- und gesellschaftskritische Satire. Michael Haneke hat’s 1997 mit Funny Games vorgemacht, Darren Aronofsky trieb das Spiel in mother! (2017) zum äussersten Extrem. Was bleibt da noch zu tun? Viel. Der südkoreanische Regisseur Bong Joon-ho (Snowpearcer) beweist, dass die Nische »Home Invasion« noch immer unausgeschöpftes Potential verbirgt. Sein beunruhigender Thriller Parasite (Originaltitel Gisaengchung) hat dieses Jahr die Goldene Palme von Cannes eingeheimst – völlig zu Recht.
Der Clou: Bong versetzt den Zuschauer in die Perspektive derer, die eindringen – nicht in die »Opfer« also, sondern in die »Täter«. Wer hier allerdings Opfer und wer Täter ist, lässt Parasite gekonnt in der Schwebe. Zu Beginn setzt Bong alles daran, die Zuschauer auf die Seite der Kims zu bringen. Im leichtfüssigen und witzigen Indiefilm-Flair wird das Bild einer verarmten, aber charismatischen Familie gezeichnet. So ist das Publikum in den ersten Minuten noch gerne Komplizin dieser Parasiten. Spätestens, als wegen einer Täuschung die alteingesessene Haushälterin den Hut nehmen muss, drohen die Sympathien zu kippen.
Da beginnt eine fesselnde Unsicherheit: Mit wem sollen/dürfen wir mitfiebern? Mit den hinterhältigen Kims, oder aber mit der unglaublich höflichen Vorzeigefamilie Park, die diese Ausnutzung sicherlich nicht verdient hat? Die Antwort scheint einfach: Mit den Parks natürlich. Sie sind schliesslich die Hintergangenen. Die Opfer. Trotzdem: Als sich die Sache immer weiter zuspitzt und die Kims drohen, aufzufliegen, hofft man inständig, dass es nicht geschehe. Oder will man, dass es geschieht? Die Spannung ist nicht nur unglaublich stark, sondern auch wahnsinnig ambivalent. Spätestens im zweiten Akt legt sich eine grosse Unruhe auf den Film. Die Geschichte gerät in die Fänge eines moralischen Vakuums. Ein so virtuoses und vielgestaltiges Hin und Her gab es im Kino schon lange nicht mehr zu bewundern.
Der Subtext liegt in auffälligen Bemerkungen. Zum einen ist da der reiche Herr Park, der sich über den Geruch seines Chauffeurs Kim stört. Es ist der Geruch der Armut, der Park die Nase rümpfen lässt – der Hochmut der Reichen, der die Täuschung der Kims letztlich wieder rechtfertigt. Oder doch nicht? Und dann ist da eine vielsagende Behauptung von Frau Kim: »Wäre ich reich, wäre ich auch so höflich wie die!« Die Frage ist nur: Stimmt das? Man kann sich des Gefühls nicht ganz erwehren, dass die Parks ihren Reichtum ebenso verdient haben, wie die Kims ihre Armut. Oder ist auch das nur zynische Suggestion? Obwohl der Stil von Parasite aalglatt ist, und der Plot direkt zur Sache geht, schafft Bong hier überraschend viele Interpretationsspielräume. Man kann sich verirren in diesem Film, sich in widerstrebenden Meinungen verheddern. Das macht grosses Kino aus! Dass alle Schauspieler grandios aufspielen, ist das Tüpfelchen auf dem i.
So ist Parasite ein einehmendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Täter und Opfer, Spass und Ernst – edel bebildert, spannungsvoll, verstörend, herausfordernd, hart und mit reichem Subtext unterfüttert. Schon jetzt ein heisser Anwärter auf den besten Film des Jahres 2019.
10/10