Wenn Nostalgie über Innovation triumphiert
Die kriminelle Karriere des Fleischlieferanten Frank »The Irishman« Sheeran (Robert De Niro) verläuft ausserordentlich steil. Als er bei einer illegalen Lieferung an die Mafia erwischt wird, hilft ihm der Mob-Anwalt Bill Bufalino (Ray Romano) aus der Patsche. Sogleich nimmt ihn der Mafia-Boss Russell Bufalino (Joe Pesci) unter seine Fittiche. Sheeran steigt schnell zum Auftragsmörder Bufalinos auf. Mit der Zeit freundet sich Bufalino mit dem Gewerkschaftspräsidenten Jimmy Hoffa (Al Pacino) an. Gegen aussen gibt sich dieser idealistisch und vernünftig, doch auch er unterhält finanzielle Beziehungen zur Mafia. Nachdem Hoffa hopsgenommen wird und sich in einen Machtkampf mit anderen Gewerkschaftern verwickelt, wird er zum echten Problem für die Bufalinos. Ein Problem, das Sheeran lösen soll. Doch »The Irishman« hadert; denn eine tiefe Freundschaft verbindet ihn mit Hoffa.
Hallelujah, die Engel singen: Martin Scorsese inszeniert einen Mafia-Film mit Robert De Niro, Al Pacino und Joe Pesci. Mit The Irishman (2019) setzt uns Netflix ein Werk vor, das den Mund jedes Filmfans wässrig machen wird. Das alles klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Doch tatsächlich: Dieser Film ist beeindruckend, mitreissend, cool. Obwohl Scorsese das Leben des Mob-Kopfgeldjägers Sheeran in epischer Breite vor uns ausrollt, vergeht die Laufzeit von dreienhalb Stunden wie im Flug. Scorsese erfreut uns mit einem klassischen Ganster-Drama alter Schule – ohne viel Firlefanz, aber mit ordentlich Krawall und Gefühl. Das ist alles berechtigt und nett, stellenweise wirkt die Übungsanlage allerdings arg durchschaubar. Das Drehbuch von Steven Zaillian, basierend auf wahren Begebenheiten, erzählt eine zeitlose Geschichte von Freundschaft, Verbrechen und Verrat. Nur: Hatten wir das nicht schonmal? Der Gedanke, dass Scorsese im Gefolge von Netflix virtuos die Filmnostalgie der Zuschauer ausschlachtet, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Andererseits kann man mit gutem Recht einwenden: Wenn das so rockt wie hier, weshalb nicht?
The Irishman ist ein Schauspielfilm. Robert De Niro überstrahlt sie alle, sein Porträt des schweigsamen, naiv-treuen Bluthundes fesselt. Joe Pesci als Mafia-Boss darf für einmal die Stimme der Vernunft sein; eine Rolle, die ihm wunderbar zu Gesicht steht. Al Pacino als Hoffa darf sich als verrückter Chaot gebärden, schiesst aber manchmal übers Ziel hinaus. (Wie oft soll dieser Typ denn noch »Cocksuckers« sagen?) Stilistisch auffällig ist Scorsese hier selten, er erzählt seine Geschichte mit der Routine eines Meisters. Mit dem gezielten Einsatz von Slow-Motion, abrupten Musik-Schnitten und dem Übereinanderlegen verschiedener Personen bei derselben Tätigkeit vermag der Film Akzente zu setzen, ansonsten bleibt der Film angenehm unverkrampft. Scorsese schwebt wie ein sarkastischer, allwissender Erzähler über dem Geschehen, was dem Gezeigten manchmal auch die Intensität nimmt.
Ein besonderes Schmankerl ist die Szene, in der Sheerans Frau beim Drehen des Autoschlüssels innehält, da sie die Explosion des Autos fürchtet. Ein plötzlicher, unangenehmer Spannungsmoment, in dem Scorsese unglaubliches Timing beweist. Abgesehen davon sind die Frauen in diesem Film fast unsichtbar: Die Missstimmungen und Intrigen spielen sich einzig zwischen Männern ab, ihr dreckiger Job überschattet ihre Familien. Dennoch spielt eine Frau eine besondere Rolle: Peggy, eine der vier Töchter Sheerans. Sie ist die schweigsame, moralische Instanz der Geschichte, die ihren Vater fürchtet und heimlich verurteilt. Sozusagen das schlechte Gewissen, das Sheeran sträflich vernachlässigt und schliesslich unwiderruflich verliert.
Was The Irishman zudem über das typische Crime-Drama erhebt, ist der gesamte letzte Akt: In ihm zeigt Scorsese die pensionierten Verbrecher, schwach und gebrochen, wie sie noch nicht einmal im Angesicht des Todes ihre Sünden eingestehen können. Diese tristen, grauen Szenen an Sheerans Lebensende gehören ohne Zweifel zu den Höhepunkten des Filmjahres 2019. Der Aufbau zum eigentlichen Finale des Filmes – dem Verrat an Hoffa – ist Spannungskino par excellence. Die absurde Konversation der Auftragsmörder um einen Fisch auf dem Auto-Rücksitz könnte direkt aus einem Drehbuch von Quentin Tarantino stammen. Also auch für Humor ist in dieser tragischen Lebensgeschichte gesorgt.
The Irishman ist alles, was man sich von einem Film wie diesem erhoffen konnte – und vielleicht noch ein bisschen mehr. Trotzdem kann man Martin Scorsese vorwerfen, zu sehr auf Nostalgie und zu wenig auf Innovation zu setzen. Ein reichhaltiges und vielgestaltiges Werk ist The Irishman dennoch. Unbedingt im Kino und nicht auf Netflix anschauen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Dann aber genug Verpflegung mitnehmen. Wie gesagt: dreieinhalb Stunden.
8/10