HUNTED
(HUNTED)
Vincent Paronnaud, Belgien/Frankreich/Irland 2020
Vorsicht – dieses Review enthält SPOILER!
Dem belgischen Kino bin ich seit Jahren sehr verbunden, obgleich oder gerade weil es überdurchschnittlich trostlos, düster und deprimierend, sprich ziemlich lebensnah ist – immerhin versucht es nicht pausenlos, uns einzureden, dass wir in einer schönen Welt leben und hat uns unbezahlbare Juwelen wie Benoit Poelvoordes tiefschwarze Mediensatire Mann beißt Hund oder gar Peter Brosens‘ und Jessica Woodworths surreale Weltuntergangs-Parabel La Cinquième Saison aka Die fünfte Jahreszeit geschenkt.
Vincent Paronnauds Hunted ist nun ein weiterer Film aus Belgien, wenn auch als Koproduktion mit Frankreich und etwas Unterstützung aus Irland. Zu den ganz finsteren Botschaftern seiner Heimat gehört dieses leicht umstrittene Survivaldrama mit Anklängen ans Rape-and-Revenge-Genre nicht, aber vom Wohlfühlkino ist es noch immer so weit entfernt wie Belgien von der Südsee ...
Unsere Heldin Ève, eine Mittdreißigerin, arbeitet für eine Immobilienfirma und soll Interessenten für einige noch im Bau befindliche Häuser gewinnen, hat dabei aber keinen rechten Erfolg – was zwangsläufig zu Ärger mit ihrem Chef führt. Der fordert mehr vertrieblichen Einsatz von ihr und droht auch schon mit einem Kollegen, der ihre Arbeit übernehmen könne. Am Abend dieses unerbaulichen Tages wird sie auch noch von ständigen Anrufversuchen ihres Freundes genervt (um diese Beziehung steht es also nicht zum Besten), und so schnappt sie sich ihre rote Jacke, lässt das Handy ganz bewusst liegen und begibt sich in einen heruntergekommenen Tanzschuppen am Stadtrand, um dort erst einmal etwas zu trinken.
Als sie an der Bar von ihrem Sitznachbarn grob angemacht wird, schaltet sich ein weiterer Mann ein und weist den Aufdringlichen unter Androhung körperlicher Gewalt in die Schranken. Ève findet ihren Retter sympathisch und lustig, und so trinken und tanzen sie den Rest des Abends zusammen. Das reicht den beiden aber noch nicht, weshalb sich Ève von dem Unbekannten mit dem Auto mitnehmen lassen will, um auch die Nacht mit ihm zu verbringen. Als sich jedoch ohne Vorankündigung und Erklärung ein zweiter Mann ans Steuer des Fahrzeugs setzt, ist ihr die Sache nicht mehr geheuer und sie drängt darauf, ihrer Wege gehen zu dürfen. Nach kurzem Hin und Her lässt man sie tatsächlich ein Stück weit außerhalb der Stadt das Auto verlassen und es kommt zu einem beiderseits sehr unhöflichen Abschied.
Ève läuft nun zu einer Tankstelle, um sich ein Taxi rufen zu lassen, aber der freundliche Tankwart teilt ihr mit, dass dies zur vorgerückten Stunde nicht mehr möglich sei – er würde sie jedoch in zehn Minuten, wenn er Feierabend hat, mitnehmen. Leider bleibt es beim „würde“, denn nun kreuzt plötzlich der Mann aus der Bar wieder auf und macht richtig viel Ärger: Nach einigen sehr unangenehmen Minuten ist der Tankwart tot und Ève befindet sich gefesselt im Kofferraum des Autos, das sie vor Kurzem noch unbeschadet verlassen durfte. Die Dinge stehen also schlecht, aber sie hat Glück im Unglück, denn als die Männer auf einer nächtlichen Forststraße mit einem Wildschwein kollidieren, überschlägt sich das Fahrzeug und ihr gelingt dank des nunmehr geöffneten Kofferraums die Flucht in den Wald. Gerettet ist sie aber noch lange nicht, denn der Mann aus der Bar, der sich längst als veritabler Psychopath erwiesen hat, ist ebenfalls weitgehend unverletzt geblieben und nimmt mit seinem geistig nicht ganz intakten Begleiter die Verfolgung auf. Als der Letztgenannte aufgrund einer Verletzung und seiner seelischen Verfassung das Vorankommen behindert, wird er eiskalt von seinem angeblichen Freund und Partner umgebracht – und wir wissen endgültig, dass wir es mit einem ganz, ganz üblen Antagonisten zu tun haben. Aber eigentlich hat es natürlich Ève mit ihm zu tun, und zwar noch mehr als zwei grässliche und blutige Tage lang ...
Ich sag’s ja immer wieder: Es gibt keine schlimmeren Monster als Menschen – da kann das Horrorgenre so viele Geister, Ungeheuer, Vampire, Zombies und Mutanten auffahren, wie es will. Hunted bestätigt dies zumindest in seiner ersten Hälfte eindrücklich – in den Momenten, in denen sich herauskristallisiert, welcher abartige Psychopath sich hinter dem Mann aus der Bar verbirgt (der übrigens keinen Namen hat – creditiert ist er einfach als „The Guy“) und in welcher Gefahr Ève schwebt, kam bei mir kurzzeitig das ultrabeklemmende Eden Lake-Feeling auf. Das will schon etwas heißen.
Auf die Dauer kann Vincent Paronnauds Arbeit diese Spannung jedoch nicht halten – das Geschehen gestaltet sich zunehmend vordergründiger und wird darüber hinaus von Ausflügen ins Mystische infiltriert. So bekommt Ève, die mit ihrer roten Jacke ohnehin schon eine Art wandelnde Märchen-Metapher ist, Hilfe von den Tieren des Waldes (konkret von einem stattlichen Raben, als es um Leben und Tod geht), und in einer eingangs kurz etablierten Nebenhandlung irritieren eine seltsame, geistig ebenfalls nicht ganz zurechnungsfähige Esoterik-Mutter und ihr Sohn. Immerhin nutzt das Skript von Vincent Paronnaud, Léa Pernollet und Stephen Shields die beiden nicht dezidiert für irgendwelchen übersinnlichen Firlefanz, sondern leitet durch sie eine bitter nötige Wende im titelgebenden „Jagd“-Szenario ein: Nachdem ihr Verfolger verletzt wurde, tickt Ève komplett aus und rennt nun ihrerseits unablässig brüllend mit einem Knüppel hinter ihm her, was, ähm ... schon etwas bizarr anmutet und zudem auch nicht konsequent zu Ende gebracht wird, da sich der Spieß noch einmal umdreht, bevor ... aber gut – hier soll nicht alles erzählt werden. Fest steht, dass Hunted in der Schlussphase immer irrer (mancher dürfte auch sagen: immer blöder) wird und sich ein gutes Stück weit verfranzt. Wirklich zufrieden sein kann man damit nicht – bei mir persönlich haben die finalen Ereignisse jedoch wenigstens ein ungläubiges, aber keineswegs böse gemeintes Kopfschütteln ausgelöst. Und das ist sehr viel mehr als gar nichts.
Optisch ist der im normalen 1.85:1-Format vorliegende Streifen durchaus interessant, obwohl dafür keine günstigen Voraussetzungen vorliegen – die Schauplätze umfassen nur eine schrecklich öde und keimige Stadtrandgegend und einen kaum weniger öden, sehr deutlich von Brauntönen dominierten Wald (selbst ein durch ihn fließender Fluss führt braun aussehendes Wasser). Paronnaud und sein Kameramann Joachim Philippe bemühen sich jedoch fleißig um eindrückliche und gern auch ausgefallene Perspektiven und spielen zudem wirkungsvoll mit dem Kontrast zwischen den trostlosen Waldfarben und Èves roter Jacke. Das lässt sich sehen, wie auch eine surreale Zeitlupensequenz, in der einige Paintballspieler durch Nebelschwaden laufen und mit ihren Geschossen aufregend bunte Akzente setzen. Zur Tricktechnik ist derweil kaum mehr zu vermelden, als dass gute Old-School-Arbeit mit Kunstblut geleistet wurde.
Darstellerisch wird das Geschehen sehr eindeutig von Lucie Debay als Ève und Arieh Worthalter als deren „Jäger“ dominiert. Lucie Debay (King of the Belgians, übrigens auch von Peter Brosens und Jessica Woodworth, Unsere Kämpfe und vieles mehr) mag bei aller Zierlichkeit etwas spröde wirken, macht ihre Sache aber tadellos, zeigt viel physischen Einsatz und ist, ohne Quatsch, die geborene Trägerin ihrer roten Jacke. Arieh Worthalter (Bastille Day, Duelles und mit Lucie Debay bereits 2009 in Somewhere Between Here and Now gemeinsam vor der Kamera), der mich ein wenig an Jean-Claude Van Damme erinnert hat, gibt derweil den namenlosen Psychopathen mit beängstigender Intensität, ohne dabei ins Overacting zu verfallen – eine starke Vorstellung. Für alle anderen bleiben nur kleinere Rollen – nach der Screentime beurteilt ist am ehesten noch Ciaran O'Brien als leicht zurückgebliebener Begleiter des Antagonisten erwähnenswert, aber er bleibt wie seine Figur durchweg blass. Und Simone Milsdochter als Waldverehrerin und Esoterik-Mutter möchte man ehrlich gesagt nicht gesehen haben. Der Score von Olivier Bernet ist hingegen sehr stark: Er tut das Richtige und begleitet das böse Treiben mit druckvollen, finsteren, tiefen und bisweilen auch dissonanten oder leiernden Tönen und Akkorden.
Unter dem Strich sind die oben genannten Attribute des belgischen Kinos also auch hier ziemlich gut aufgehoben – konkreter gesagt haben wir mit Hunted abgrundtief humorloses, verstörendes, fieses und knüppelhartes Terrorkino zwischen Survivaldrama, Psychothriller und moderatem Mystik-Mumpitz, das in seinen dichtesten Momenten tatsächlich mordsspannend und nur schwer zu ertragen ist, in seiner zweiten Hälfte jedoch unter akutem Ideenschwund leidet. Schade eigentlich. Ich persönlich war von Vincent Paronnauds Arbeit dennoch ziemlich beeindruckt, weil sie eben Szenen mitbringt, die wirklich einfahren und auch nachhallen (scheinbar habe ich ein Faible für Wald-Survival-Geschichten – ich wurde hier sehr stark an Patrick Magees in Sachen Mystik-Kokolores noch wesentlich dämlicheren, aber eben auch erschreckend harten und nachhaltigen Primal Rage und an Adam MacDonalds Bären-Schocker Backcountry erinnert, zwei Filme, die deutliche Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen haben). Èves rote Jacke, so viel steht fest, werde ich jedenfalls nicht so schnell vergessen.
(07/22)
6 von 10 Punkten.