Ein abgeschiedenes Internat irgendwo tief versunken in den Bergen Argentiniens. Vier Geistliche kümmern sich um eine Gruppe verlorener Jungs, die in der isolierten Gemeinschaft zu einem frommen Leben herangezogen werden. Unterdrückt wird dabei nicht nur ein Teil ihrer natürlichen Bedürfnisse, sondern ihre komplette Herkunft: Alles, was gilt, ist das Hier und Jetzt im Angesicht Gottes.
Als eines Tages aus dem Nichts Pater Martin (Iván Noel) zu den Aufsehern stößt, erfährt der streng behütete Alltag der Heranwachsenden einen Wandel. Insbesondere gilt das für den Außenseiter Franz (Manuel Luka Figueiro), an dem der Fremde von außerhalb ein besonderes Interesse zu hegen scheint…
Es ist ein abgeriegeltes Idyll, das Iván Noel da erschafft, immer mit dem Ziel im Hinterkopf, es schlussendlich durch äußere Kräfte aufzureißen. In die Abgeschiedenheit hinein arbeitet er mit hohem dokumentarischen Anspruch. Die Kamera wackelt selbst im statischen Modus dezent, als würde der Kameramann sie einfach aus Gelegenheit in die Kulisse halten. Im Gegenlicht der digitalen Bilder werden Blütenpollen sichtbar, welche sich in gediegenem Tanz über die endlosen Wiesen der Anlage verteilen. Die Gerüche des Sommers dringen durch das Bild hindurch zu den Rezeptoren durch. Die Kinderdarsteller sind durchweg mit Laien besetzt. Ihre Bewegungen werden als Kollektiv eingefangen, instinktiv den Strömungen folgend wie eine Schafherde, die selig auf der Weise grast und nichts von den Absichten ahnt, die ihre Hüter hegen. „Cordero de Dios“, im internationalen Vertrieb „Lamb of God“, ist nicht umsonst der Titel eines Films, der die Sünden der Menschheit auf die jugendliche Unschuld ablegt.
Dass dies das letzte Werk des ursprünglich aus Frankreich stammenden Wahl-Argentiniers sein würde, eines Mannes, der im Jahr darauf Suizid beging, verleiht ihm eine über die Maßen bittere Komponente, wodurch die Themen, obgleich sie vermutlich nicht direkt auf wahren Begebenheiten beruhen, unwiederbringlich mit der Realität verschmolzen werden. Einige der jungen Darsteller sollen ihren Regisseur des sexuellen Missbrauchs bezichtigt haben; eine Information wie ein Faustschlag, der im Nachgang sämtliche Bewertungsmaßstäbe für das vollendete Werk verwischt und letztlich unbrauchbar macht, gerade angesichts aufgeworfenen Themen und der Wahl ihrer Darstellung. Dadurch wird eine unerwünschte zweite Ebene geschaffen, die man nicht einmal dann völlig ausblenden kann, wenn man Noels Schicksal nicht als Eingeständnis der Schuld interpretieren möchte.
Dabei verbirgt sich hinter „Lamb of God“ selbst ohne diesen Hintergrund schon ein aufwühlender Film. Unentwegt verweist er auf die unsichtbaren Facetten der irdischen Existenz, die von den Geistlichen radikal aus dem Alltag ihrer Schützlinge getilgt werden. Angesiedelt im Jahr 1961, ist es der Blick auf ein südamerikanisches Exil in einer Welt, die sich immer noch von den Leiden des Zweiten Weltkriegs erholt, derweil Argentinien zu einem Auffangbecken für deutsche Kriegsverbrecher geraten ist. Europa ist weit entfernt, aber es schallt nach mit all seinen Verheißungen und seinem Verderben.
Besonders effektiv spielt Noel seine Stärken aus, wenn er diese Kontraste behüteter Jugend und schrecklicher Wahrheiten miteinander kollidieren lässt. Das kann mal eine Predigt in unerwartet rauer Tonlage sein oder ein Schreckmoment in der Nacht. Manchmal reicht es auch einfach, das absolut Unbekannte aus dem Hut zu zaubern, um die Normalität völlig aus den Angeln zu heben; eine Flasche Alkohol als Begrüßungsgeschenk zum Beispiel, oder aber die einzige weibliche Gestalt des Films, ein junges Mädchen, das auf einmal wie ein Geist am Ufer eines Bachs auftaucht und später zur absoluten Verkörperung passiver Provokation wird.
Gelegentlich lässt sich der Regisseur von der Ekstase bei der Suche nach einer ungeschönten Wahrheit auch mal ungewöhnlich hoch in die Lüfte treiben, zumindest, wenn man angesichts der Verpackung beziehungsweise Vermarktung ein nüchternes Drama mit Arthaus-Allüren erwartet. Seine komödiantische Seite kommt in einer Sequenz um halluzinogene Pilze voll zur Geltung, als kichernde Kinder und philosophierende Aufseher friedlich koexistieren, die einfache Schönheit der Natur voller Inbrunst umarmen und die Kühe auf dem Rasen heiligsprechen. Der aufgrund seiner repetitiven Seichtheit gehörig an den Nerven sägende, stocksteife Soundtrack stünde eigentlich einer Reportage aus einer Vorabend-Wissenssendung der Öffentlich-Rechtlichen besser als diesem Film, doch selbst er lässt sich von der merkwürdigen Stimmung anstecken und nimmt durch Schwankungen in der Tonfrequenz aktiv am Trip teil. Es sind diese Momente, in denen „Lamb of God“ seiner Quintessenz am nächsten ist und das Ursprüngliche selbst ausstrahlt, das er zu beschützen versucht.
Zu einem derart naturalistischen Ansatz mögen auch die wiederholten – dabei keineswegs voyeuristisch gefilmten – Einstellungen der unbekleideten Darsteller passen, und doch hallen gerade durch die Häufung dieser Szenen die nachträglichen Vorwürfe nun wie Echos über sie hinweg. Über die Maßen exzentrisch wird es aber eigentlich eher dazwischen, wenn das Drehbuch den Versuch unternimmt, die unter Verschluss gehaltene Sexualität der Kinder ausbrechen zu lassen. In einigen Momenten wirkt das authentisch, in anderen wiederum schießen die Anweisungen gefühlt ein wenig über das Ziel hinaus und legen eine Art von Initiative in die Hand der Kinder, die sich unnatürlich anfühlt.
Eigentlich jedoch fungiert das Spiel mit Hinweisen auf sexuellen Missbrauch, das etwa beim ein Jahr später entstandenen chilenischen Drama „A Place Called Dignity“ über das Treiben des realen Sektenführers Paul Schäfer noch im Zentrum der Handlung lag, lediglich als falsche Fährte, wird doch durch die Enthüllung der wahren Absichten des Fremden, gespielt von Noel selbst, eine Dimension freigelegt, die an die Suspense-Thriller eines Alfred Hitchcock anknüpfen, vom Katholizismus der Nachkriegszeit aus „Ich beichte“ (1953) über das unvertraute Bekannte („Im Schatten des Zweifels“, 1943) bis zur spannungssteigernden Parallelmontage mit Showdown im Nirgendwo. Obwohl der dokumentarische Stil durchgehend bewahrt bleibt, erreicht der Film mit zunehmender Laufzeit die Dramatik einer großen Hollywood-Produktion, was ihn einerseits ein wenig an Authentizität kostet, andererseits aber seine Schlagkraft steigert, so dass bei allen Entgleisungen, die sich Noel bis dahin geleistet hat, ein gewisses Hochgefühl zurückbleibt.
Was soll man nun abschließend über „Lamb of God“ sagen? Vieles deutet auf das Werk eines Auteurs hin, der sämtliche kreativen Entscheidungen möglichst unabhängig von anderen Entscheidungsträgern modellieren möchte, weshalb er nicht nur für Regie und Drehbuch verantwortlich ist, sondern zugleich als Komponist, als Editor, teilweise als Kameramann sowie in einer Schlüsselrolle als Schauspieler. Es ist schade, dass die Wirklichkeit den kraftvollen künstlerischen Abdruck, der dabei entstanden ist, derart verwässert hat, dass er nicht mehr unbefangen bewertet werden kann.