Ein filmisches Feuerwerk zwischen Wahnsinn, Witz und Weltenwanderung
Manchmal gibt es diese seltenen Momente, in denen ein Film plötzlich aus dem Nichts auftaucht, die ganze Kinolandschaft aufmischt und einem mit offenen Augen, offener Kinnlade und offenem Herzen im Kinosessel zurücklässt. Momente in denen man das Gefühl hat, Zeuge eines kreativen Urknalls zu sein. „Everything Everywhere All at Once“ ist genau so ein Moment. Hollywood hat in den letzten Jahren viele Multiversen entdeckt – Marvel, DC, was auch immer. Aber was Dan Kwan und Daniel Scheinert, gemeinsam bekannt als The Daniels, hier abliefern, ist kein glattgebügeltes Franchise-Puzzle, sondern ein anarchisch-schönes, emotionales und vollkommen durchgeknalltes Kunstwerk. Eine geradezu kosmische Überdosis an Kreativität, ein filmisches Konfetti-Inferno, das sich weigert, in irgendeine Schublade zu passen. Wenn man das Kino verlässt, weiß man nicht, ob man gerade eine Sci-Fi-Komödie, ein metaphysisches Familien-Drama oder die absurdeste Martial-Arts-Oper seit Matrix gesehen hat – wahrscheinlich alles gleichzeitig. Und genau das ist der Punkt.
Im Zentrum dieser galaktischen Achterbahnfahrt steht Evelyn Wang, gespielt von der überragenden Michelle Yeoh – eine Frau, die versucht, ihre Steuererklärung zu bewältigen, während ihr Waschsalon zu bröckeln beginnt, ihre Ehe zu scheitern droht und die Beziehung zu ihrer Tochter Joy (Stephanie Hsu) längst auf der Kippe steht. Ein Szenario aus der unteren Mittelschicht Amerikas – graue Neonlichter, Formulare, Frust. Doch bevor der Zuschauer zu tief in den Alltagsmief eintaucht, kippt der Film in ein Chaos, das seinesgleichen sucht. Evelyns Mann Waymond (Ke Huy Quan) offenbart sich plötzlich als Version aus einem Paralleluniversum – und ehe man sich versieht, wird Evelyn durch ein Multiversum katapultiert, das von absurd bis metaphysisch alles bietet.
Das Drehbuch ist ein Geniestreich, der sich weigert, Regeln zu befolgen. Es ist chaotisch, wild, überbordend – und dabei unfassbar präzise. Jede Absurdität hat Bedeutung, jedes Gimmick eine Seele, jeder Witz ein Echo. Die Daniels nehmen das Konzept des Multiversums und machen daraus kein Sci-Fi-Spielzeug, sondern eine Metapher für das Leben selbst: unendlich viele Entscheidungen, unendlich viele Versionen von uns – und am Ende zählt nur, was wir hier und jetzt tun. Man könnte meinen, „Everything Everywhere All at Once“ sei zu viel des Guten. Zu wild, zu wirr, zu überladen. Und doch gelingt The Daniels das Kunststück, das Chaos zu bändigen, ohne ihm seine anarchische Seele zu nehmen. Das Ganze ist so herrlich überdreht, dass es eigentlich nicht funktionieren dürfte – aber es funktioniert, weil Herz und Hirn perfekt ausbalanciert sind.
Der Film ist ein Farbenrausch. Eine Collage aus Welten, Emotionen und Ideen. Jede Szene ist visuell so markant, dass man sie als Kunstwerk einrahmen möchte. Und doch schafft es der Film, trotz all des Overkills, nie leer oder oberflächlich zu wirken. Unter all dem Krach und Glitzer steckt ein tief menschlicher Kern: die Sehnsucht nach Verbindung, nach Verständnis, nach einem Sinn in der chaotischen Unendlichkeit. Das Multiversum ist hier keine Flucht – es ist ein Spiegel. Man könnte meinen, dass ein Film, der so viel auf einmal will, irgendwo stolpert. Aber nein: Die Action ist nicht nur bombastisch, sie ist auch choreografisch brillant und voller Humor. Da werden Büroklammern zu Waffen, Aktenordner zu Schlagringen, Bauchtaschen zu Nunchakus, und ein Steuerbüro zur Arena des Absurden. Die Kämpfe sind wild, kreativ, physisch und oft zum Brüllen komisch – wie Jackie Chan auf LSD, aber mit einer existentialistischen Botschaft.
Die Inszenierung ist unberechenbar, verspielt, überbordend, aber nie selbstverliebt. Dan Kwan und Daniel Scheinert erzählen nicht einfach eine Geschichte – sie sprengen sie. Die Art, wie sie Realitäten wechseln, Rhythmen brechen und Emotionen aufbauen, ist schlichtweg revolutionär. Man spürt in jeder Einstellung, dass hier zwei Filmemacher mit grenzenloser Fantasie am Werk sind – und gleichzeitig mit einem tiefen Verständnis dafür, was Kino im Innersten ausmacht: Gefühl. Michelle Yeoh, seit Jahrzehnten eine Ikone des asiatischen Kinos, ist hier ein absolutes Ereignis. Mit einer Mischung aus Eleganz, Kraft, Verletzlichkeit und Witz trägt sie den Film auf ihren Schultern – und das so mühelos, dass man fast vergisst, wie irrsinnig das alles ist. Ihr Charakter ist zugleich Heldin, Mutter, Antiheldin und Symbol – ein Mensch, der in allen Universen scheitert und gerade dadurch triumphiert. Ihr Oscar war nicht bloß verdient, sondern überfällig. An ihrer Seite brilliert Ke Huy Quan, dessen Rückkehr nach jahrzehntelanger Hollywood-Pause fast schon märchenhaft wirkt. Seine Figur ist der stille Held des Films, das emotionale Zentrum, das zwischen all den Dimensionen immer wieder den Weg zur Menschlichkeit zeigt. Jamie Lee Curtis? Göttlich. Als Steuerbeamtin Deirdre Beaubeirdre (ja, so heißt sie wirklich) verwandelt sie Bürotristesse in absurdes Theater, in physische Comedy, in pure Präsenz. Und schließlich Stephanie Hsu als Joy, Evelyns Tochter und gleichzeitig Antagonistin in einer anderen Dimension, ist die wilde, brillante Entdeckung dieses Films.
Fazit
„Everything Everywhere All at Once“ ist mehr als ein Film – er ist ein Ereignis, ein Manifest des Einfallsreichtums, ein Statement gegen die kreative Schwerkraft Hollywoods. Er zeigt, dass Kino noch immer überraschen kann, dass es lachen, weinen, explodieren darf – und dass der Mut zum Risiko belohnt wird. Die Daniels haben mit ihrem Werk etwas geschaffen, das gleichermaßen Kopf und Herz bedient, Pop und Philosophie vereint, Witz und Wehmut verschränkt. Es ist, als hätten sie alle Genres gleichzeitig in den Mixer geworfen – und statt Brei ist pures Kino entstanden. „Everything Everywhere All at Once“ ist wahrscheinlich der kreativste, uniqueste, wildeste Ritt, den uns Hollywood seit Jahren beschert hat. Ein Film, der alles will – und tatsächlich alles bekommt.