Einzelhandel ist Krieg
Rémi Delescluses („Papa ist nicht mein Vater“) rund eineinhalbstündiger Dokumentarfilm aus dem Jahre 2021 wirft einen kritischen Blick auf große Supermarktketten, den Druck, den sie auf Lieferanten und Erzeuger ausüben, aber auch jenen, dem sie sich durchs Vordringen von Online-Händlern in den stationären lokalen Einzelhandel selbst ausgesetzt sehen. Da es sich um eine deutsch-französische Arte-Produktion handelt, werden beide Länder thematisiert.
Der Schwerpunkt liegt aber zunächst auf dem französischen Supermarktkonzern Carrefour, der mit harten Bandagen mit seinen Lieferanten kämpft. Dabei geht es nicht immer nach Recht und Gesetz zu und die Methoden sind extrem. Den Lieferanten möchte man zurufen: Organisiert und wehrt euch, ihr seid doch Franzosen!?
Delescluse geht es ins Detail, gewährt Einblicke in die Preisgestaltung und Gewinnmargen der Supermärkte, erläutert, auch anhand konkreter zahlen (sehr gut!), wie Carrefour seine Franchise-Nehmer für kleinere Dependancen in Innenstädten systematisch mittels Knebelverträgen und Wuchereinkaufspreisen ausbeutet. Einiges hat man vorher schon gehört oder mitbekommen, hier wird's aber vernünftig eingeordnet und werden die wahren Hintergründe genannt – z.B. wenn die Produkte eines Herstellers komplett aus den Regalen genommen werden und sich die Handelsketten damit brüsten, wie unlängst auch in Deutschland geschehen.
Doch der Film, durch den ein Off-Sprecher führt, zeigt auch die Bildung von Oligopolen auf beiden Seiten und deren unerbittliche Machtkämpfe, die an die Mafia erinnern. Mit Grafiken werden intereuropäische Zusammenhänge veranschaulicht. Ein Lehrstück in Sachen Kapitalismus – und darin, wie fatal eine unkontrollierte, ungesteuerte Marktwirtschaft wäre.
In der zweiten Hälfte wird's global: Die Krake Amazon breitet sich im Lebensmitteleinzelhandel aus, was Delescluse am Beispiel der USA zeigt. Hochmoderne Technik ist nur ein vermeintlicher Fortschritt für die Massen, da Kundinnen und Kunden durch sie völlig gläsern werden. Auch in China geht's per zahlreicher Automatisierungen und Optimierungen effizienzsteigernd zu, wobei auch dort nicht jeder Fortschritt wirklich sinnvoll erscheint.
Auch wenn er im Prinzip nur eine Momentaufnahme ist: „Auslaufmodell Supermarkt?“ ist ein hochinteressanter, ansprechend gemachter, sich Zeit nehmender Dokumentarfilm, dessen Team überall vor Ort war, um die Realität einzufangen und zu belegen. Unterstützung erhält man von mehreren Expertinnen und Experten – und fürs Herz gibt’s ein paar historische Supermarktbilder. Unschön ist lediglich, dass beim Arte-üblichen teilsynchronisierten, teiluntertitelten Mischmasch die Untertitel offenbar aufgrund eines Fehler in der Mediathek auf der Strecke blieben und ich bei nichtsynchronisierten französischsprachigen Aussagen somit kein Wort verstehe.
Der Erzähler jedenfalls zeigt sich am Ende vorsichtig optimistisch: „In Zukunft werden vielleicht diejenigen erfolgreich sein, die es schaffen, Technologie und menschliche Dienstleistung auf positive Weise zu verbinden.“ Nun ja. Ein Anfang wäre zumindest, wenn Technologie der breiten Masse statt in erster Linie dem Kapital zugutekäme. Derzeit läuft man Gefahr, von einem US-Tech-Giganten-Oligopol immer weiter ausgebeutet und versklavt zu werden – nicht nur im Supermarkt…