Den Film inhaltlich zu umreißen, grenzt an einen Akt der Unmöglichkeit: Ein blondes Mädchen irrt ziellos durch eine verlassene Welt, deren Gebäude zeitlos zwischen düster-gotisch und modern wanken. Bei sich trägt sie ein riesiges Ei, ihren einzigen Besitz, den sie hütet. Die Welt ist menschenleer bis auf einen Soldaten, der eine Art mechanisches Kruzifix als Waffe bei sich trägt und dem Mädchen bald folgt. Aus anfänglicher Scheu entwickelt sich bald Vertrauen, und der Fremde erzählt ihr die Geschichte von der Sintflut und der Arche, von der aus Noah eine Taube aussandt nach Festland zu suchen und vergeblich aus ihre Rückkehr wartete. Aber warum interessiert sich der Fremde so für das Ei des Mädchens?
Angel's Egg ist ganz klar einer der ungewöhnlichsten und am schwersten verdaulichen Animes überhaupt. Entstanden als Co-Produktion von Regisseur und Drehbuchautor Mamoru Oshii (Ghost in the Shell, Avalon) sowie Designer Yoshitaka Amano (Vampire Hunter) vereint er zwei der visuell engagiertesten Künster Japans. So ist der gesamte Film auch eine reine Augenweide. Die dunklen Backgrounds sind jeder ein Kunstwerk für sich, Amanos Charakterdesign und die Animation sind sehr detalliert und aufwändig.
Dennoch ist der Film sehr ruhig, fast traumwandlerisch-meditativ. Das Dialogscript füllt gerade eine A4-Seite. Oft sind Passagen über viele Minuten nur von stimmungsvoller Musik untermalt. Überhaupt wirkt der ganze Film wie ein Traum: Die Handlungsfolge ist eher assoziativ als sinnvoll-logisch, was aber nicht heißt, dass der Film keinen Sinn macht: Zum einen wird dem Film ein durchaus stimmiger Rahmen gegeben (zum Beispiel erwacht das Mädchen zu Beginn in einem Schiffsbauch und zum Ende entpuppt sich die Welt als Unterseite eines Schiffes); zum anderen offenbaren die Szenen ihren Sinn erst durch Interpretation, lassen aber immer auch viel Raum zur Spekulation.
Viele der Motive sind religiös geprägt: Da ist die Arche und der sintflutartige Regen, der einsetzt, sobald der Soldat dem Mädchen davon erzählt und bald die Stadt unterspült. Da ist der blonde Engel mit seinem Ei als Symbol der Hoffnung und das kruzifixähnliche Gebilde, dass den Soldaten als Messias auf der Suche nach Erlösung erscheinen lässt.
Weiter lassen sich viele zivilisationskritische Töne erkennen:
In einer sehr intensiven Szene jagen zum Beispiel die gesichtslosen Einwohner der Stadt verzweifelt mit Harpunen nach Fischen. Diese sind jedoch nur Schatten an den Wänden und die Menschen können sie nicht erwischen. Das Mädchen kommentiert die Szene, indem sie sagt, dass diese Menschen noch immer Fische jagen, obwohl es doch schon lange keine mehr gibt. Bei näherem Hinsehen sind die Umrisse der Fische die des lange für ausgestorben gehaltenem Quastenflossers... Weiterhin empfindet der Soldat die äußersten Äste des Baum des Lebens als bedrohliche Gefahr. Ein Zeichen für die kriegerischen Auswüchse, die die Evolution hervorgebracht hat?
Regisseur Oshii hat sich in seinem Filmen immer wieder als zivilisations- und fortschrittskritisch erwiesen. Dieser Film scheint direkt seinem Unterbewusstsein zu entstammen.
Wer sich nicht zu tief in Oshii's Psychen hineindenken und die rätselhafte Symbolik des Films entschlüsseln will, darf hier immernoch ein optisch und akustisch meisterhaftes Werk einfach nur ansehen und genießen. Für Fans des Künstlers Amono (der auch den letzten Sandman für Neil Gaiman illustrierte) sowieso ein absolutes Muss, ist es doch der einzige Film, der seine Designs originalgetreu umgesetzt hat.