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Eine Annäherung an das repressive Wirken des deutschen Sektenführers Paul Schäfer, der sich im Asyl in Chile über drei Jahrzehnte hinweg seinen eigenen kleinen Staat samt Gefolgschaft errichtet hatte, muss zwangsläufig von einer gewissen Unsicherheit geprägt sein. Sie entsteht aus der Frage, wie man sich dem Unvorstellbaren gewissenhaft annähert, das einst hinter verschlossenen Mauern geschah.

In den zugehörigen Filmadaptionen macht sich die Unsicherheit auch in einer Fluktuation der ausgewählten Genres und Stile bemerkbar. Wo Florian Gallenbergers „Colonia Dignidad – Es gibt kein zurück“ (2015) mit den internationalen Stars Emma Watson und Daniel Brühl noch wie ein waschechter Thriller des Weltkinos agiert, da wird das Grauen im Indie-Horror-Animationsfilm „La Casa Lobo“ (2018) bereits anhand von Malereien und Pappmaché-Figuren allegorisch verpackt und psychologisch verarbeitet.

Der chilenische Regisseur und Autor Matías Rojas Valencia versucht sich mit „A Place Called Dignity“ nun am Ansatz eines Dramas, das allerdings unter der stillen Wasseroberfläche den aufwühlenden Mechanismen des Horrorfilms gehorcht. Gelegentlich lässt er seine Wolfsaugen hinter dem Schafspelz aufblitzen, den er jedoch erst spät vollständig ablegt. Zu fröhlichem chilenischen Wetter und aufrichtigen deutschen Tugenden gewinnt die düstere Vorahnung mit jeder Minute an Gewicht, während sich die Anzeichen sammeln für die wahren Dimensionen der Unmenschlichkeit, mit der sich der Deutsche sein neues Umfeld untertan machte.

Während man dem alltäglichen Ablauf in der „Colonia Dignidad“ folgt, muss man oft an Guillermo del Toros Frühwerk „The Devil’s Backbone“ denken. Dokumentiert aus den Augen der Hauptfigur, einem chilenischen Jungen namens Pablo (Salvador Insunza), der umringt von deutschen Altersgenossen früh in die Isolation gedrängt wird, malt Valencia mit sanftem Strich das idyllische Trugbild einer mit perfider Propaganda unterfütterten Autokratie, an deren Horizont die Konflikte des Landes wie Gewitterwolken zu erahnen sind. Was bei Del Toro der spanische Bürgerkrieg war, ist hier die Pinochet-Diktatur. Militärische Kräfte walten in beiden Fällen, indem sie eine undurchdringliche Glaskuppel über den Handlungsschauplatz spannen und die vermeintliche Gedankenfreiheit zu einer Illusion geraten lassen.

Für die Etablierung dieses Mikrokosmos muss dabei nicht einmal schwarzweiß gemalt werden; das Feuer bekommt genug Zeit, sich auch ohne Beschleuniger zu verteilen. Gerade Hanns Zischler sorgt durch seine gemäßigte, gleichwohl ungeheuer präsente Verkörperung des Paul Schäfer für ein allmähliches Hineingleiten in die Ausweglosigkeit, indem er den Menschen hinter dem Monster transparent macht; ein wenig so, wie es Bruno Ganz mit Adolf Hitler in „Der Untergang“ (2004) anstellte. Das rückt vordergründige Werturteile des Films über seine eigenen Figuren zunächst in den Hintergrund, obschon es offensichtlich zu den Anliegen gehört, die völlige Entgleisung einer humanistischen Idee aufgrund krankhafter individueller Motive aufzuzeigen.

Das Produktionsdesign spielt zu diesem Zweck mit surreal bis traumartig ausgekleideten Innenraumaufnahmen, in denen jedes Möbelstück und jede Person exakt nach Maß arrangiert ist. Die Ausleuchtung ist oft grell, wie um eine Vorstufe des himmlischen Reichs zu simulieren, versinkt dann wieder in völliger Dunkelheit oder im diffusen Halblicht. Versammlungen wirken ausstaffiert wie Theaterstücke, das Publikum und die leeren Sitzreihen inbegriffen. Die deutsche Flagge flattert vor dem Hauptgebäude neben der chilenischen, die deutsche Sprache verdrängt das Spanische in Form von Befehlen und Parolen, die sich noch nicht völlig vom Nationalsozialismus entkoppelt haben. All dies bebildert aus den Augen eines Kindes, wohlgemerkt, das die Zeichen im Gegensatz zum Betrachter noch nicht zu kontextualisieren versteht.

Ist die Maske einmal gefallen, bleibt „A Place Called Dignity“ zwar seinem entschleunigten Tempo treu, um keinen Stilbruch zu riskieren, wird aber drastischer in seinen Mitteln, die Vorgänge hinter den Mauern der Schule transparent zu machen. Mitglieder werden in Ritualen nicht nur gedemütigt, sondern letztlich der Kommune auf unschöne Weise entzogen; im Bildhintergrund, still und unauffällig, während sich Generäle untereinander lachend über die Erträge ihrer Arbeit unterhalten. Eine Notwendigkeit, die Untaten Schäfers und seiner Handlanger grafisch darzustellen, entsteht nie, weil bereits das Gewicht ihrer Andeutungen permanent die Atmosphäre beschwert. Monströs gerät der Film dann zumindest durch einen Abstecher in die heidnische Folklore, als der weihnachtliche Auftritt des Krampus einen harten Schnitt setzt, eine erste Vorstufe nämlich für das Ende der Kindheit, das zu dem Zeitpunkt längst eines der zentralen Themen geworden ist.

Nebenher investiert Valencia viel Zeit darin, die perfiden Methoden nachzuzeichnen, mit denen Schäfer seine Anhänger kontrollierte. Dies macht sich insbesondere in einer Nebenhandlung rund um eine Krankenschwester (Amalia Kassai) bemerkbar, bei der unterdrückte Sexualität und Kinderwunsch in eine mechanische Spirale aus fatalen Entscheidungen geraten, bei der Recht und Moral völlig ihrer Bedeutung beraubt werden. Gerade hier kann sich dem aufmerksamen Betrachter ein Bild des Grauens in Form einer Gemeinde offenbaren, die wie ein Kollektiv fremdgesteuerter Roboter agiert, aus denen nur manchmal noch etwas Menschliches hervorlugt, zu hoffnungslos vergraben, um je wieder an die Oberfläche befördert zu werden.

Die Außenwelt erscheint bei alldem hermetisch abgeriegelt; nur vereinzelt stürmen verzweifelte Familienangehörige in die Kulisse und versuchen die Massenhypnose, durch deren Vorhang sonst nur die Hauptfigur blicken kann, zu durchbrechen. Valencia bleibt hier konsequent auf seiner Linie und lässt sich nicht zur Inszenierung eines Märchens umstimmen, indem er seinen Figuren Auswege liefert, was letztlich ausschlaggebend ist für die bedrückende Stimmung des Films.

Mit seinem aus klassischer Musik bestehenden Soundtrack, seinen einstudierten Posen und seinen leisetreterischen Andeutungen des Grauens mag „A Place Called Dignity“ so manchem Klischee des Nachkriegsdramas entsprechen, er birgt aber durchaus auch Überraschendes und dadurch Schockierendes. In letzter Konsequenz ist es ein trostloser, auch unterkühlter Film geworden, dem man womöglich sogar mangelnde Empathie vorwerfen könnte, weil er seine Hauptfigur völlig im Stich lässt, während er den Verlauf der Geschehnisse manchmal nur teilnahmslos zur Kenntnis zu nehmen scheint. Damit allerdings wird auch unnötiges Pathos vermieden. Und dennoch genug Schmerzhaftes an die Oberfläche gezerrt, um Emotionen zu erzeugen.

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