Der DDR-Giallo
„Ich werde es nie zulassen, dass du das Kind bekommst! Lieber reiß‘ ich mir wie ein Pelikan die Federn aus!“
Thomas Grawes (Andreas Schmidt-Schaller) 23. „Polizeiruf 110“-Einsatz ist ein Besonderer: Zum einen wurde er im Frühjahr 1989, also noch in der Vorwendezeit gedreht, aber erst an Neujahr 1990, also nach Mauer- und Grenzöffnung, erstausgestrahlt. Zum anderen handelt es sich um einen Film Rainer Bärs, der das Drehbuch schrieb und die Regie führte – und dessen Filmen Peter Hoff in seinem Standardwerk „Das große Buch zum Polizeiruf 110“ attestierte, sie hätten „in den siebziger und achtziger Jahren“ bereits „Aufsehen erregt, hoben sie sich doch durch ihre ästhetische Ambitioniertheit aus den nüchtern realistischen Alltagsgeschichten der Fernsehdramatik heraus“. Hoff nennt Hitchcock als Vorbild dieser Episode, vor allem dessen Suspense-Anwendung – angesichts der ästhetisch-formalen Gestaltung hege ich aber einen anderen Verdacht.
„Deine Überheblichkeit wird dich noch teuer zu stehen kommen!“
Herbert (Klaus-Peter Thiele, „Die Abenteuer des Werner Holt“), Kapitän bei der Interflug, und Gerda Bachmann (die Ungarin Zsuzsa Nyertes), Opernsängerin, leben in Scheidung. Herbert will unbedingt das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn Robert (Björn Müller), das jedoch Gerda für sich beansprucht. Darüber entbrennt ein erbitterter Streit in Gerdas Wohnung, als Herbert ihr im angetrunkenen Zustand zu verstehen gibt, keinesfalls auf das Sorgerecht verzichten zu wollen. Als er davonfährt, verursacht er einen Unfall und begeht Fahrerflucht. Völlig aufgelöst kehrt er zu Gerda zurück, weiht sie ein und bittet sie um ein Alibi. Im Gegenzug werde er aufs Sorgerecht verzichten. Gerda sagt ihm ihre Unterstützung zu, doch nach kurzer Zeit erhalten beide anonyme Briefe, u.a. mit einem Foto des verstorbenen Unfallopfers – offenbar gibt es einen Mitwisser. Doch wer sollte das sein und was genau will er von den Bachmanns? Gerda fühlt sich zunehmend verfolgt – von einem Mann, der wie derjenige auf dem Foto aussieht…
„Du kotzt mich an!“
Bereits die Buchstabenanordnung der Titeleinblendung ist ungewohnt stilisiert. Die ersten Spielszenen sind Auszüge aus der „Madame Butterfly“-Oper mit verschiedenen Farbwelten, gesungen von der zur Geisha geschminkten Gerda. Im Anschluss an diesen farbprächtigen Prolog wird die Gemengelage vermittelt: Herbert befindet sich mit Söhnchen Robert erst am Flughafen, dann am Meer, wo er sich von seinem Anwalt Richard in Sachen Scheidung und Sorgerecht beraten lässt. Herbert Eltern lernt man auch kennen – sie fürchten, durch die Scheidung ihren Enkel nie mehr zu Gesicht zu bekommen. Kurzzeitig herrscht eine melancholische Atmosphäre vor, bevor der „Der Tod des Pelikan“ den Thrill ansteuert. Ausgangspunkt ist der böse Streit zwischen den Noch-Eheleuten, dessen Conclusio seitens Herbert einer Kriegserklärung gleicht. Weshalb genau das Tuch zwischen ihnen derart zerrissen ist, erfährt man dabei nicht.
„Wo bleibt denn hier die Gleichberechtigung?!“
Nach dem schicksalhaften Unfall wird ein Duschmord à la „Psycho“ angedeutet, es bleibt jedoch bei der Andeutung als kleine augenzwinkernde Hitchcock-Hommage. Das Ehepaar scheint durch das gemeinsame Geheimnis wieder zusammengeschweißt, Herbert könne sich sogar einen Neuanfang vorstellen. Dass Gerda seine Straftat für sich ausnutzt, um ihn in der Hand zu haben und das Sorgerecht für sich allein beanspruchen zu können, ist zunächst eine mögliche Lesart, die sich aber bald zerschlägt. Denn nach und nach wird sie systematisch in den Wahnsinn getrieben.
Es fehlt das Blut, ansonsten ist aber alles da: Eine unheimlich attraktive Hauptdarstellerin, eine Tiergattung im Titel (wir erinnern uns an Dario Argentos Tier-Trilogie), eine Handlung, die mehr (Psycho-)Thriller denn Krimi ist, eine nur ganz am Rande vorkommende Polizei (Grawe wohnt im selben Wohnblock wie Gerda – ein eigenartiger Zufall, der anscheinend sein musste, um aus diesem Film überhaupt einen „Polizeiruf“-Beitrag machen zu können), eine Verortung in der High Society (für DDR-Verhältnisse machen die Berufe der Eheleute sie am ehesten zu „etwas Besserem“, wenngleich auch dies eine Art konstruierter Kompromiss ist), eine Kameraarbeit auf höchstem Niveau inklusive Fahrten durch hochgradig ästhetisiertes und artifiziell ausgeleuchtetes Ambiente (das so gar nicht nach DDR aussieht) … und steht da bei Gerda nicht sogar eine grüne Flasche mit gelbem Etikett auf dem Tisch?
„Der Tod des Pelikan“ ist sichtlich von Bava und Argento beeinflusst, macht neben dem Verzicht auf grafische Gewaltexzesse aber das eine oder andere Zugeständnis ans Fernsehpublikum. So ist die Handlung weitestgehend sehr gut nachvollziehbar, wodurch Täter und Motiv ab einem gewissen Punkt jedoch recht vorhersehbar sind. Zudem fußt die Handlung auf einem ganz realen, handfesten gesellschaftlichen Problem der DDR: Dass der Mann gegen den Willen der Frau nur in Ausnahmefällen eine Chance hatte, das Sorgerecht fürs Kind zu erhalten. Ein nettes Detail: Gerda macht Filius Robert zum Abendbrot den Fernseher an – und es läuft ein „Polizeiruf 110“. Auch das titelgebende Federvieh äußert sich im einen oder anderen Detail, das sich im starken, den Kreis zum Prolog schließenden Ende zur überdeutlichen Allegorie auswächst. Wenn Freundinnen und Freunde des europäischen Genrekinos nur einen „Polizeiruf 110“ gucken wollen, dann doch bitte diesen hier.